Stolen Mortality
blühende Heide. Das Gras schluckte jedes Geräusch ihrer schnellen Schritte und sie ließ den Wind wie kühlen Sand durch die gespreizten Finger fließen. Er linderte die Schmerzen der gebrochenen Knochen. Mit der anderen Hand stabilisierte sie ihre zertrümmerten Rippen. Heilung konnte garstig wehtun , aber die angebrachte Beachtung konnte sie ihrem Körper vorerst nicht zukommen lassen. Sie musste sich beeilen. Der Tag war nicht mehr fern. Ehe die Sonne aufging, sollte sie ihren Wagen erreicht haben und zuvor musste sie dringend noch mehr trinken. Ein Mensch würde ihr in dieser Nacht noch seinen Todesrausch schenken.
Sie dachte an den seltsamen Menschen, dem sie das Leben geschenkt hatte. Seit Langem war er der Erste , den sie nicht getötet hatte. Er hatte sie gerettet – war diesem verräterischen Pack von feigen Bastarden gegenübergetreten, die sie hatten abschlachten wollen. Der Teufel mochte wissen, wie er sie vertrieben hatte. Sie waren stark gewesen, doch voller Angst vor den Strafen, die der Kienshi-Senat androhte, wenn man dessen lächerliche Gesetze brach.
Erbärmliche Kreaturen. Beinah empfand sie Mitleid für diese Vampire. Wenn sie in dieser Nacht vorher getrunken hätte, wäre der Kampf anders ausgegangen.
Nur einen hatte sie töten können, ehe die anderen drei sie zu schwer verwundeten, um weiterkämpfen zu können.
Sie erinnerte sich noch an die Schande, die sie durchflossen hatte, als sie das Bewusstsein verlor.
Dann war nur noch er dagewesen, dieser Mensch. Erst an seinem Hals war sie wieder zu sich gekommen, und auch wenn ihr Ehrgefühl es ihr verbot, ihn in dieser Nacht zu töten, so war der Durst nach all ihren Verletzungen doch viel stärker als Ehre. Und dazu sein Geschmack. Dieser unvergleichliche Geschmack, so vollkommen; so sanft und süß. Sie konnte ihn immer noch riechen, wenn sie das Gesicht in dem cremefarbenen Hemd vergrub, das er ihr umgelegt hatte. Sein Duft war verstörend schwach, verglichen mit dem Geruch der Baumwolle, des Waschmittels und ihres eigenen Blutes, das das Hemd besudelte. Aber er war da. Bei jedem ihrer Atemzüge fachte er ihr Verlangen nach diesem Jungen ein wenig mehr an.
Der Rausch, den das Sterben des Opfers immer mit sich brachte, war ausgeblieben, doch sein herrlicher Geschmack hatte Enttäuschung nicht zugelassen. Sie hatte gelauscht, wie sein Herz schwach wurde, und obwohl sie so neugierig, so hungrig auf diesen ganz besonderen Rausch war, den sein Tod ihr zweifelsohne geschenkt hätte, zwang sie sich, von ihm abzulassen. Plötzlich lag er hilflos in ihren Armen, wie sie zuvor in seinen. So verletzlich. Sie hatte so viel getrunken, dass er sterben musste. Aber er lebte, und das hatte Laine der Agonie zum Trotz erleichtert.
Nicht, weil das Gesetz es verbot, sie zu töten.
Gesetze kümmerten sie nicht. Sie ließ sich doch nicht von dem Pack verlogener Seelenräuber einreden, es wäre falsch, ihre Beute zu töten. Wie sagte Jonathan immer?
Kennst du eine Katze , die die Maus verschont? Es ist deine Natur , zu töten und dein Geburtsrecht, nach dieser Natur zu leben. Du wirst nach deinem Tod mit Verdammnis zahlen – egal , wie du lebst, also lebe wild und frei, denn dazu wurdest du geboren.
Gemeinsam spotteten sie über jene, die sich an ridiküle Gesetze hielten, und sich das Töten, und damit den herrlichen Moment absoluter Freude, nehmen ließen. Das strahlende Licht in ihrer düsteren Existenz – den kleinen, feierlichen Moment des Todes, der die Sinne eines jeden Vampirs jubilieren ließ und ihm Erfüllung schenkte – würden sie sich von nichts und niemandem verbieten lassen.
Jonathan hatte recht . Sie hatte einen hohen Preis bezahlt, sich über die Menschlichkeit zu erheben. Sicher nicht, um sich weiterhin ihren Regeln zu unterwerfen.
Nein, kein Gesetz hielt sie zurück. Und erst recht kein Mitleid. Sie hatte dem Jungen sein Leben als Dank für seine Hilfe geschenkt. Nun waren sie quitt. Sein Leben gegen ihres. Sollte sie ihm erneut begegnen, würde kein Ehrgefühl im Wege sein. Sie würde sein süßes Blut bis zum Tropfen, der den Tod brachte, genießen und sich an seinem letzten Herzschlag berauschen. Beim bloßen Gedanken daran seufzte sie sehnsüchtig auf.
Nur kurz überkam sie das Misstrauen und sie überlegte, wie er wissen konnte, dass sie von ihm getrunken hatte. Es hatte ihm nicht einmal Angst eingejagt. Für einen Moment war ihr der Gedanke gekommen, einen dieser lächerlichen Kienshi vor sich zu haben. Aber das war nicht
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