Stollengefuester
Freiburg studiert. Einmal hat sie mich auf Tonband aufgenommen. Da war ich jünger und ich wusste noch genialere Wörter. Der Professor war sehr beeindruckt. Diese Sachen standen nicht in seinen Büchern. Er hat mir sogar einen Gruß ausrichten lassen. Hast du gewusst, dass man an den Universitäten solches Zeug studiert?«
Er startete den Motor und der Bus setzte sich tuckernd in Bewegung.
»Was hältst du von Hene Hari?«
»Er ist der Neffe von Elsi Klopfenstein, und Elsi ist unsere Freundin geworden, sozusagen, also ist Hene unser Freund. Aber mit diesem Mann möchte ich nie im Leben Streit haben.«
»Ich ganz sicher auch nicht«, seufzte Nino.
»Was tust du jetzt?«, fragte Nino, als sie wieder auf dem Camping standen.
Nore Brand schaute zum See hinüber.
»Ich muss ein bisschen da hinaus. Nachdenken vielleicht. Schauen, ob mir etwas einfällt.«
»Gut. Dann gehe ich ein bisschen einkaufen. Ich komme um vor Hunger. Hast du einen Wunsch?«
»Ich weiß nicht. Nimm einfach von allem genug. Für dich. Genug Kaffee für mich. Ich friere, trotz Skiunterwäsche, und ich fürchte, das wird sich nicht so rasch ändern.«
»Wie wär’s mit einer Runde Tai-Chi? Die Dame von nebenan wäre sehr dankbar.«
»Ja. Die ideale Gelegenheit, den gefrorenen Kranich endlich in mein Repertoire aufzunehmen.«
Nore Brand ging mit raschen Schritten Richtung See. Die Bewegung würde wärmen.
Das Licht veränderte sich. Die ersten Zeichen der Nacht.
Es war still. Keine Bewegung auf dem Wasser.
Sie erinnerte sich an Elsis Bericht von jenem Morgen, als sie Klara Ehrsams Leiche im Wasser liegen sah, dann lief im Zeitraffer die ganze Geschichte vor ihrem inneren Auge ab.
Irgendwo zwischen diesen Bildern, die ihr Gedächtnis gespeichert hatte, versteckte sich jemand und beobachtete, machte sich lustig über die Polizei und atmete auf, als die Luft wieder rein war.
Irgendeiner hatte sich wieder an die Arbeit gemacht, als Ruhe eingekehrt war im Tal. Und sie selbst hatte mit ihrem Schweigen dafür gesorgt, dass diese Ruhe ein Jahr lang angedauert hatte.
Sie hatte dem Anwalt Merian das Versprechen gegeben zu schweigen und sie hielt ihre Versprechen. Doch hier hatte es sich nicht um eine private Angelegenheit gehandelt. Sie hatte als Beamtin etwas verschwiegen.
Sie hatte die Dinge vermischt. Weil es verdammt schwierig war, die Dinge immer sauber auseinanderzuhalten. Weil man immer als ganzer Mensch, mit seinem ganzen Leben, in einem Fall steckte. Für das Recht eines Opfers eintrat. Man konnte sich nicht nur als Teil hineingeben, man musste ganz rein, um die Spuren lesen zu können. Und sobald man drin war, war man selbst ein Teil davon.
Aber wie man sich dann von diesen Lebens- und Todesgeschichten erfolgreich lösen konnte, sobald man die Spuren gelesen hatte, das hatte ihr noch niemand beigebracht.
Sie hätte die Pflicht gehabt, zumindest Bastian Bärfuss zu informieren, dass hinter dieser Aktion der Geheimdienste die Idee der Klara Ehrsam stand. Sie hätte es ihm mitteilen müssen.
Und jetzt drehte sich das Todeskarussell wieder, weil sie geschwiegen hatte. Auch der Hoteldirektor hatte von diesem geheimen Plan gewusst. Das war beunruhigend.
Je länger Nore Brand darüber nachdachte, desto weniger begriff sie. Sie hatte, verdammt noch mal, tatsächlich geglaubt, das Vermächtnis der alten Dame retten zu können. Zugegeben, sie war dieser Sache nicht ganz auf den Grund gegangen. Die Morde waren aufgeklärt, aber den letzten Schritt hatte sie nicht getan. Sie hatte keine Ahnung, was in dieser Festung tatsächlich versteckt wurde. Für den Kreis der Eingeweihten wurde die Lage ungemütlich. Wer, außer Merian, wusste, dass auch sie selbst dazu gehörte?
Der Hoteldirektor, Anwalt Merian, Professor Plodowski und sie selbst. Wer noch?
Wie stand es mit Elvira Merian, der Schwester des Anwalts? Wie mit der Witwe? Was war mit Hene Hari? Wo stand er wirklich?
Sie blieb stehen und schaute auf den See. Ihr war kalt.
Was für eine Idiotin war sie doch gewesen.
Ein Wasservogel flog über den See und schrie.
Dieser langgezogene, schrille Klagelaut ließ sie erschauern.
Wann würde er in den Süden ziehen?
Die Nacht sank vom hohen Horizont ins Tal herunter.
Dieses Mal musste sie abwarten und beobachten, und zwar bis zum Ende. Bis zum bitteren Ende.
Warum sagte man eigentlich, bis zum ›bitteren Ende‹?
Als sie von ihrem Spaziergang zurückkam, sah sie Licht im Bus. Es sah überraschend freundlich und einladend aus. Sie
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