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Stollengefuester

Stollengefuester

Titel: Stollengefuester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marijke Schnyder
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untergebracht werden sollten?
    Sie schlüpfte aus den Schuhen und zog die Beine auf das Bett. Hinlegen und dösen kam nicht in Frage. Außerdem hing hoch über dem Kopfende des Bettes dieses Bild mit dem mächtigsten Rahmen, den sie je gesehen hatte.
    Kurz entschlossen packte sie das Kissen und warf es zum Fußende des Bettes. Man konnte nie wissen. Jacques würde lachen. Aber im Gegensatz zu ihr wusste er nichts von den tödlichen Gefahren, die von Kunstgegenständen ausgehen konnten.
    Der schwere Rahmen über dem Hotelbett konnte sich von seinem Nagel lösen und sich auf die schlafende Polizistin werfen. Eine kleine, vertraute Paranoia, die mit Schlafmangel zu tun hatte. Nichts weiter. Sie ließ Jacques in ihrer Vorstellung laut und herzlich weiterlachen.
    Vom Bett aus konnte sie den Vorhang berühren. Sie zog ihn etwas zurück und schaute hinaus. Der Wind hatte den Himmel leer gefegt. Sie warf einen Blick auf die Uhr.
    Sie war keine Tagschläferin, sie musste auf die Nacht warten, und in ein paar Stunden hatte sie ein Rendez-vous mit dem Professor aus St. Petersburg. Sie hing in einer Warteschleife, aus der es kein Ausbrechen gab. Die Ereignisse würden sich von selbst einstellen. Besser, sie unternahm etwas, um zu vergessen, dass sie warten musste.
    Was waren seine wirren Sätze gewesen, bevor sie gegangen war? Er hoffe, dass sie zurückfahren müsse, um die Antwort auf die dringendste Frage zu erhalten? Ja, so war es gewesen.
    Mit anderen Worten: Hier findet ihr nichts.
    Und doch wollte er sie sprechen, bevor sie wieder abreiste.
    Sie zog den Stadtführer aus der Jackentasche und blätterte ihn wahllos durch. Ein Bild zeigte einen leeren Sandstrand. Der Text darunter empfahl einen Ausflug ans Meer, nach Zandvoort. Eine Erfrischung am Wasser. Das müsste reichen als Schlafersatz.
    Sie schlüpfte in die Jacke und zog ihren Schal aus der Reisetasche.
    Sie erinnerte sich plötzlich, dass das Handy gezirpt hatte, als Nino ihr das Frühstück ins Abteil brachte. Jacques. Wer sonst. Es wusste ja sonst keiner von ihrem Handy. Er war überrascht und erfreut, dass sie sich nicht sehr weit von ihm aufhielt.
    Ob Nino Zoppa das Zirpen gehört hatte? Sie hatte vergessen, auf lautlos zu stellen. Was war sie bloß für eine Idiotin. Sie hoffte inständig, dass sein Gehör, wie bei vielen Jugendlichen, erheblich geschädigt war vom unablässigen Musikkonsum per Stöpsel.
    Sie würde ihr Gesicht verlieren, wenn er es merkte.
    Nore Brand als klammheimliche Handybesitzerin. Für Liebesbotschaften. Wie ein Teenager. In seinen Augen zweifellos eine unerträgliche Peinlichkeit.
     
    Eine Stunde später stand sie an der Nordsee. Kurz nach Haarlem hatte die Dünenlandschaft eingesetzt. Überwachsene alte Dünen mit Wohn- und Ferienhäusern. Und plötzlich hielt der Zug an in diesem sonderbaren kleinen Backsteinbahnhof.
    Kaum hatte sie den Schutz der Häuser hinter sich gelassen, begann der Kampf gegen den Wind. Sie musste sich mit aller Macht gegen ihn anstemmen. Es verschlug ihr den Atem. Aber sie wollte ans Meer. Deshalb war sie schließlich hierhergekommen. Sie schlug den Kragen hoch und hielt ihn fest.
    Da war schon das Meer. Hier fuhr der Zug direkt an den Strand.
    Sie zog ihre Stiefel aus und ging ein paar Schritte im nassen und kalten Sand. Ein Junge ließ seinen Drachen steigen. Ein roter Papierdrachen mit einem langen Schweif. Er stieg zappelnd auf, stürzte auf einen Schlag nieder, stand über dem Boden still, schien für Sekunden zu erstarren, stieg wieder, hoch und höher, dank dem Widerstand des Windes.
    Und an der Wasserlinie gingen zwei Menschen scheinbar mühelos im Wind.
    Nore Brand wollte auf das Meer zulaufen, blieb aber nach ein paar Schritten schwer atmend stehen. Diese Kälte und diese Heftigkeit des Windes! Er zerrte schmerzhaft an ihren Haaren. Sie schlang den Schal um ihren Kopf.
    Diese nutzlose Weite.
    Sie schaute den beiden nach, die nahe an den Wellen gingen, stehen blieben und wieder gingen. Zwei kleine, dunkle Gestalten vor dem Blitzen des unendlichen Wassers. Und der Junge mit dem Drachen, der unablässig niederstürzte und wieder aufstieg.
    Die Heftigkeit der Elemente wurde ihr rasch zu viel.
    Noch einen Blick hinaus, wo nichts war außer Weite, und sie zog sich wieder in den Schutz der Häuser zurück. Die Cafés waren geschlossen, die Korbstühle aufeinandergestapelt.
    Man wartete auf den nächsten Sommer. Sie eilte zum Bahnhof zurück. Der Zug stand bereit. Aufatmend ließ sie sich auf eine Bank

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