Stollengefuester
sinken. Ihr Gesicht glühte vom eiskalten Wind.
Abraxas
Nino Zoppa hatte sich aufs Bett geworfen.
Vor seinem Fenster tuckerten die Boote auf und ab, kleine und große. Das Quietschen von Fahrradbremsen drang an seine Ohren.
Darüber eines dieser unsäglichen Glockenspiele. Nore hatte ihm etwas von mittelalterlichen Carillons vorgelesen.
Sie fand das offensichtlich nett. Für ihn war es nur nervtötend.
Sie hatte ihm einen kleinen Reiseführer in seine Jackentasche gesteckt. »Als Erinnerung an deine erste Dienstreise ins Ausland. Da stehen ein paar interessante Sachen drin.«
Er blätterte lustlos im Büchlein. Er war einfach hundemüde.
Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er musste grinsen.
Nore Brand hatte ein Handy. Heimlich!
Er hatte gesehen, wie sie es plötzlich, in Gedanken versunken, aus der Tasche hervorholte und drei Sekunden später erschrocken zurücksteckte. Er hatte ihren Blick gespürt. Er saß ihr gegenüber, die Stöpsel in den Ohren, mit geschlossenen Augen. Sie wusste nicht, dass er seine Augen so senken konnte, dass die Menschen um ihn herum meinten, er schlafe. Das war unheimlich praktisch.
Er hatte also durch die kleinen Augenschlitzchen hindurch gesehen, wie sie ihr Handy, es war nicht das neueste, rasch zurücksteckte, sich verlegen räusperte, ihm einen Blick zuwarf und sich erleichtert zurücklehnte.
Das war der beste Moment auf der Reise gewesen. Diese Frau hatte wirklich gar keine Ahnung, wie schlecht sie sich verstellen konnte. Nur mit Ganoven, da war sie ganz anders. In solchen Momenten fürchtete sogar er sich vor ihr.
Sie wusste nicht einmal, dass er meistens gar keine Musik hörte.
Mit den Stöpseln in den Ohren ließ man ihn in Ruhe. Das klappte in der Regel gut.
Nore brauchte so etwas nicht. Sie war die Ruhe selbst.
Und er war ein Zappelphilipp. Natürlich wusste er das. Nervös. Rasch aufgebracht. Durcheinander. Er konnte sich mit den Augen der andern sehen. Manchmal war das lustig, manchmal nicht. Was für die andern vermutlich erheiternd war, war für ihn selbst ärgerlich. So war das. Es wäre leichter, wenn es andersherum wäre. Aber so war es nun einmal nicht. Was ihn amüsierte, nervte die andern, was ihn nervte, amüsierte die andern.
Das war doch verdammt schlecht eingerichtet vom Leben.
Diese langen Beine, alles war zu lang geraten an ihm. Er hatte Mühe, seine Bewegungen zu kontrollieren. Er schien immerzu allen im Weg zu sein.
Nein, nicht allen. Nore nicht.
Die nervte es vor allem, wenn er wieder mal zu spät war. An den Rest schien sie sich in den letzten Monaten gewöhnt zu haben. Manchmal schaute sie ihn verwundert an. Staunend. Als ob er ein Weltwunder wäre. Nino grinste. Das war er doch, oder etwa nicht?
Und manchmal hatte er sie im Verdacht, dass sie ihn gar nicht sah. Das hasste er, aber er konnte nichts dagegen tun. Es war dann so, als ob er einfach ein Teil ihrer selbst wäre. So wie man seine Füße anschaute, in Gedanken verloren, und nicht sah und nicht merkte, dass das da unten zu einem selbst gehörte.
Das stimmte ja auch irgendwie, sie arbeiteten immerhin schon eine Weile zusammen. Irgendwie gehörten sie mittlerweile zusammen.
Er vermutete, dass sie ihn unterdessen sogar mochte.
Er mochte sie ja auch. Das war ein Kinderspiel. Sie war auch anders als die Frauen in seiner Umgebung. Sie hatte etwas Verrücktes. Er auch. Also war es kein Wunder, dass sie sich verstanden.
Sie hatte Panik vor Mäusen!
Er lachte. Nore Brand hatte Angst und Panik vor Mäusen! Das passte überhaupt nicht zu ihr.
Sie konnte so ruhig dasitzen. In sich versunken. Man sah dann nicht, ob sie über etwas nachdachte oder nicht. Eigentlich war das, was Nore tat, vermutlich gar nicht nachdenken. Sie saß da und ließ die Welt auf sich wirken. Ließ die Welt in ihre Augen und Poren strömen, verarbeitete sie und warf das Überflüssige wieder hinaus.
Nino lachte. Was für idiotische Gedanken. Nein, Nore ließ bestimmt nicht viel Überflüssiges in ihr Innenleben. Mit ihrer Erfahrung konnte sie filtern. Er wusste, dass ihm das abging. Er ließ sich niederwalzen von all den Dingen, die täglich über ihn hereinstürzten.
Das Leben war genauso schrecklich wie die Schule.
»Birne weit auf und zuhören«, hatte der Dozent gesagt. Der Kerl hatte tatsächlich ›Birne‹ gesagt. Bei diesem Wort war Nino aufgejuckt und hatte angefangen zuzuhören.
Der Kerl da vorne im blauen Licht seiner Präsentation musste das gewusst haben. Auf ›Birne‹ würde jeder
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