Stolperherz
Wange. Die zwei waren ja unglaublich schnell dicke Freundinnen geworden, dachte ich. Typisch Michelle, das passte zu ihr.
»Tobi steht auf dich. Das konnte ich ganz genau sehen.« Sie zwinkerte Kira zu. »Die Frage ist nur, ob ich ihn dir so mir nichts dir nichts überlasse.« Beide lachten laut auf. »Bis gleich!«
Also um eins am Probenraum, dachte ich, das waren noch fast fünf Stunden. Wie sollte ich die Zeit bis dahin bloß rumkriegen? Selbst wenn Greg es gar nicht mitbekommen würde, wenn ich nun in den Unterricht ging, würde ich mir selbst total blöd vorkommen.
Aber schwänzen? Ob ich nicht doch besser hingehen sollte? Doch bei der Vorstellung kam ich mir schäbig vor, so als würde ich Greg verraten. Das war natürlich ein hirnverbrannter Gedanke, aber es fühlte sich einfach falsch an. Also drehte ich um, ging ohne ein Wort an den Jungs von Crystal vorbei und schlenderte so gelangweilt wie möglich Richtung Fußgängerzone. Die paar Stunden würde ich in irgendwelchen Läden schon rumkriegen.
Was ich allerdings nicht bedacht hatte, war, dass die meisten Läden in der City erst um zehn Uhr öffneten und jetzt war es gerade mal kurz nach acht. Also steuerte ich eine Bäckerei an, wo ich einen Milchkaffee bestellte und dazu ein süßes Brötchen. Milchkaffee gab es zu Hause nicht, weil Lisa behauptete, ich sei noch zu jung für Koffein. Dabei trank in meiner Klasse jeder Kaffee. Ich suchte mir einen Platz an der großen Fensterfront und stellte mein Tablett auf dem hohen Tisch davor ab.
Wenn meine Mutter mich jetzt sehen könnte!
Sie würde durchdrehen. Ein schlechtes Gewissen hatte ich allerdings nicht, denn am letzten Schultag wurden nun mal keine weltbewegenden Dinge mehr besprochen. Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass sowieso nie irgendwelche weltbewegenden Dinge im Unterricht besprochen wurden. Die wirklich wichtigen Dinge passierten außerhalb des Stundenplans.
Weltbewegend jedoch war der Moment vorhin an den Fahrradständern gewesen und ich spielte ihn immer und immer wieder in meinem Kopf durch. Während ich an meinem Kaffee nippte, wiederholte ich in endlosen Gedankenschleifen unaufhörlich, was Greg zu mir gesagt hatte. Jedes einzelne Wort war wertvoll für mich .
Er hatte mich tatsächlich eingeladen.
Mich.
Das Herzproblem .
Und er hatte mir einen Spitznamen gegeben.
Red .
Einfach so.
Mir war zwar klar, dass ich in Michelles und Kiras Anwesenheit größere Chancen hatte, einen Atomkern zu spalten, als Greg beeindrucken zu können, aber überhaupt dabei zu sein war schon mehr, als ich mir je erträumt hatte. Ob es an der neuen Haarfarbe lag? Warum hatte ich mir die Haare nicht schon viel früher gefärbt?
Während meine Gedanken so um die Szene auf dem Schulhof kreisten, überkamen mich gleichzeitig immer wieder richtige Angstschauer, wenn ich daran dachte, dass ich nachher in den Probenraum gehen würde.
Worüber sollte ich reden? Sollte ich überhaupt was sagen, oder wollten die Jungs nur in Ruhe ihre Songs spielen? Brachte ich es überhaupt noch mal fertig, etwas zu sagen? Was da vorhin am Fahrradständer passiert war, war für mich einfach unglaublich. Als ob ein anderes Mädchen an meiner Stelle geantwortet hätte.
Für Kira dagegen würde es einfach sein – sie würde nur dastehen und lächeln und es wäre toll. Und Michelle würde blöde kichernd einen nach dem anderen angraben, und es wäre wie immer, niemand würde sich daran stören.
Und ich? Was würde ich tun?
Es waren noch knapp vier Stunden bis zur Probe und jetzt kam ich mir wirklich vor, als müsste ich zu meiner eigenen Hinrichtung gehen. Der Vergleich mit Marie Antoinette kurz vor ihrer Enthauptung schien mir mehr denn je passend zu sein. Allerdings war sie im Gegensatz zu mir eine schillernde Figur gewesen, erst letztens hatten wir Bilder von ihr im Geschichtsunterricht gesehen. Sie war sicher eine mutige Frau gewesen, eine, der man so schnell nichts vormachen konnte.
Trotzdem: Ich war zu den Proben von Crystal eingeladen, von Greg, dem coolsten Bassisten auf diesem Planeten, dem schönsten Typen überhaupt, und nur das zählte, nur das war wichtig.
Und wenn ich nach diesem Tag wie Marie Antoinette enden würde – das wäre es mir wert.
3. KAPITEL: C RYSTAL
Punkt ein Uhr stand ich vor der Tür des Jugendzentrums, in dessen Keller sich der Probenraum befand, den die Jungs zweimal die Woche gemietet hatten. Das wusste ich, seit ich damals vor der Teestube zusammengebrochen war und ein Gespräch zwischen
Weitere Kostenlose Bücher