Stolperherz
große Schlagzeug, auf deren Trommeln je ein dunkelblau-schwarzes Tattoo mit »Crystal«-Schriftzug klebte, stand in der hintersten Ecke des Raumes, daneben Max’ Keyboard.
»Max fehlt«, antwortete Tobi, während die anderen sich positionierten.
»Dann erst mal ohne Keyboard«, antwortete Greg, was Tobi sofort kommentierte: »Der Sound ist doch scheiße ohne!«
»Wer nicht pünktlich ist, ist selber schuld.« Greg sah in die Runde und die anderen nickten zustimmend.
Ich kannte fast alle Songs der Band auswendig, sie war stadtbekannt und hatte sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Crystal spielte auf jedem Schulfest und auch sonst zu allen Gelegenheiten, und selbst beim Stadtfest hatten sie ihren Auftritt auf einer großen Bühne gehabt. Damals waren sie allerdings so spät dran gewesen, dass ich nur die ersten vier Songs mitbekommen hatte. Dann musste ich nach Hause, weil meine Mutter die späte Uhrzeit für bedenklich hielt. Ich hatte mich damals derart über Lisas Engstirnigkeit aufgeregt, dass wir zwei Tage später immer noch kein Wort miteinander geredet hatten.
Aber heute – heute würde ich mir das komplette Repertoire anhören können und jeden einzelnen Song genießen. Ich hatte meiner Mutter eine SMS gesendet, dass ich noch bei einer Freundin sein würde und später käme, und sie hatte es erstaunlicherweise ohne Einwände geschluckt; wahrscheinlich hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen der Kur-Sache. Dass ich seit der 5. Klasse gar keine wirkliche Freundin mehr hatte, schien an ihr vorbeigegangen zu sein.
Die Jungs hatten ihre Plätze eingenommen, Tobi trank noch an seiner Cola und Michelle und Kira saßen genau mir gegenüber auf einer der Alu-Transportkisten, die überall am Rand des Raumes herumstanden. Irgendwoher hatten auch sie eine Cola bekommen und nippten kichernd daran. Ich kam mir einerseits verloren vor, andererseits hatte Greg mich reingeholt und somit nicht vergessen. Ich versuchte, den Moment zu genießen, höchstwahrscheinlich würde es das einzige Mal sein, dass ich hier dabei sein durfte.
Lex schlug die Drumsticks aufeinander und zählte an: »3, 2, 1 …«
Es ging los mit einem Cover-Titel zum Aufwärmen von Hurts, der rockpopig war und den ich sehr mochte: Better than Love . Crystal hatte aber auch viele selbst geschriebene Titel drauf, die sie meist als Höhepunkt jedes Konzerts spielten und die Tobi textete, das wusste ich.
Jetzt begann Tobi zu singen und seine starke, beeindruckende Stimme verschaffte mir sofort eine Gänsehaut. Ich konnte nicht behaupten, dass das Keyboard fehlte. Kurz schloss ich die Augen, aber so konnte ich Greg und die anderen nicht ansehen, also machte ich sie schnell wieder auf. Es war einfach nur unfassbar, was gerade passierte. Ich ließ mich mit dem Rücken an der Wand herunter, sodass ich nun auf dem kalten Linoleum-Boden saß, Kopf und Rücken weiter an die Wand gelehnt.
Das unsichtbare Mädchen, das Herzproblem, neuerdings Scheidungskind mit roten Haaren war hier und es war einfach unglaublich.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, ich wusste noch nicht einmal, wie viele Lieder die Band gespielt hatte, denn die Zeit im Probenraum verflog wie im Rausch. Irgendwann rief einer »Pause!« und ich schreckte aus meinem Schwebezustand auf. Tobi hängte das Mikro zurück in den Ständer und drehte sich zu Michelle und Kira um. »Na, wie hat’s euch gefallen?«
»Supercool!«, kreischte Michelle los und Kira bestätigte das mit ihrem obligatorischen Lachen.
»Es war toll!«, sagte ich, allerdings so leise, dass ich es selbst kaum hören konnte. Aber darum musste ich mir keine Sorgen machen; meine Meinung spielte neben Michelles und Kiras offenbar sowieso keine Rolle.
Tobi legte die Arme um die beiden Mädchen und sie schlenderten lachend zu dritt raus. Lex und Schleicher folgten ihnen. Nur Greg blieb im Raum, während ich immer noch an die Wand gelehnt dasaß, die Beine nahe an meinen Körper gezogen und die Arme schützend darumgeschlungen. Er kam auf mich zu, drehte sich um und ließ sich ebenfalls rücklings die Wand herunter. Seinen Bass hatte er gegen eine Akustik-Gitarre eingetauscht, die bis jetzt ungenutzt im Raum gestanden hatte.
Greg machte es sich im Schneidersitz bequem, legte die Gitarre auf seine Beine und fing wortlos an, sie zu stimmen. Er drehte an den Wirbeln des Gitarrenkopfes herum und summte dabei eine Melodie, die ich nicht kannte. Dazu bewegte er sich in dem summenden Rhythmus des Songs und eine Sekunde lang
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