Stolperherz
ihm hatte ich mich gestern gar nicht mehr richtig verabschiedet – als ich ihn anrief, war nur die Mailbox drangegangen. Allerdings war das nichts Neues, wir kommunizierten während seiner ständigen Dienstreisen fast immer auf diese Art miteinander: Jeder sprach dem anderen auf die Mailbox und versicherte, sich alsbald zu melden. Das ging oft tagelang so und ich hatte mich daran gewöhnt. Aber was würde er sagen, wenn er mitbekam, wie ich hier mutterseelenallein im Morgengrauen auf einem Parkplatz stand, um auf eine Rockband zu warten, die sich einen Spaß daraus machte, Leute wie mich vorzuführen? Gut, mutterseelenallein traf es nicht ganz, immerhin stand Flocke neben mir, aber er wirkte nun ebenso ratlos und ich kam mir noch einsamer vor als sonst sowieso schon.
»Und nun?«, fragte ich Flocke und konnte nicht fassen, wem ich da gerade diese Frage stellte.
»Na ja, warten wir halt noch ein bisschen«, schlug er vor, »irgendwann werden sie schon noch auftauchen.« Seine Stimme klang kein bisschen überzeugt, eher so, als würde man einem kleinen Kind, das zu müde zum Weiterlaufen war, vorgaukeln: »Bis zur nächsten Laterne noch!«, obwohl man ganz genau wusste, dass danach noch viele weitere Laternen kommen würden.
Aber da ich keinen besseren Vorschlag zu machen hatte, blieb ich schweigend neben ihm stehen. Ich kannte mich aus mit peinlichen Momenten, das konnte man zweifelsohne behaupten. Aber hier mitten auf dem Parkplatz im Morgengrauen um mittlerweile 5:14 Uhr zu stehen, das war peinlicher als peinlich, so peinlich, dass kein Vergleich der Welt ausreichte, um dieses Gefühl zu beschreiben.
*
»Vielleicht sind sie irgendwie … aufgehalten worden?«, sagte Flocke um 5:23 Uhr, nachdem wir lange genug unseren Atem in der kühlen Morgenluft beobachtet hatten. Die Temperatur war in den letzten Tagen schlagartig gesunken und es war für einen Julimorgen mindestens zehn Grad zu kalt. Da Kälte meinem Kreislauf schon immer entgegengekommen war, beschwerte ich mich nicht, immerhin war das hier immer noch genau die richtige Mischung aus frischer Entdeckerluft, die nach Aufbruch roch, und ab und zu ein paar Strömen Sommerluft, die einen heißen Tag ankündigte. Doch die Luft hielt nicht, was sie versprach, schoss es mir durch den Kopf. Wie hatte meine Großtante Lilo immer geträllert, wenn sie ganz besonders gut gelaunt war: »Es liegt was in der Luft «. Sie wirbelte mich dann immer dazu herum. Aber jetzt lag absolut nichts in der Luft, außer die beinharte Peinlichkeit, die sich gerade durch meinen Körper zog und ihn bis zum blanken Knochen zu durchdringen schien.
5:37 Uhr.
»Flocke«, begann ich zögernd, »es ist mir fast zu peinlich, es auszusprechen. Aber ich glaube, dass wir langsam mit Sicherheit sagen können, dass es sich hier nicht um eine Verspätung handelt, sondern eher um einen Irrtum. Wir beide«, ich deutete mit dem Zeigefinger zuerst auf Flocke, dann auf mich, »wir beide sind hier gerade schwer aufgelaufen. Ich denke, wir rufen uns jetzt wieder ein Taxi und setzen diesem unsäglichen Zustand ein Ende.«
»Aber es kann doch sein, dass sie im Stau stecken«, warf Flocke halbherzig ein.
»Um fünf Uhr morgens?«
»Es ist fast sechs!«
»Innerorts?«
»Na ja, es gibt hier doch so viele Baustellen im Moment, da kann es doch immer mal vorkommen, dass …«
»Flocke!«
Meine Enttäuschung war dabei, sich in Wut zu verwandeln: Wie konnte er verlangen, dass ich diese Situation nur noch eine Minute länger ertragen sollte?
»Mach es nicht noch schlimmer, als es ist«, ergänzte ich, während ich die Taxinummer heraussuchte, »wenn das überhaupt möglich ist.«
»Ja, hallo«, meldete ich mich, nachdem eine unerträglich gut gelaunte Stimme von der Taxizentrale mich begrüßt hatte. »Wir brauchen bitte einen Wagen zum Jugendzentrum. Nein, zwei Personen. Ja. Zehn vor sechs reicht, danke.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, war es amtlich: Wir würden gleich abgeholt werden, wir würden zurückfahren. Wir waren Verlierer, ganz offiziell. Wir waren die Pappnasen der Nation und würden für die nächsten hunderttausend Jahre das Gespött der Schule sein. Tatsachen auszusprechen war schon immer viel brutaler, als sie nur als Gedanken zuzulassen. Das konnte man nun auch Flocke an seinem blassen Gesicht ansehen.
»Aber wie sollen sie ohne Keyboarder spielen?«, fragt er und sah aus wie jemand, dem man seinen Traum wie eine Seifenblase direkt vor der Nase mit einer dicken Häkelnadel zum Platzen
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