Stolperherz
brauchen nur das richtige Ziel, um so unerschrocken zu werden, wie wir es sein können.
»Gut«, sagte Lisa jetzt und nickte. »Wenn ich mich darauf verlassen kann, dass du dich regelmäßig meldest, willige ich ein. Aber die behandelnden Ärzte darf ich doch …?«
»Nein, keine Kontrollanrufe. Ich setze mich sofort in den nächsten Zug nach Hause, wenn du es trotzdem machst. Und glaub mir, nichts ist hellhöriger als Klinikwände.«
»Kurhaus …«
»Die auch.«
»Also gut.«
»Hand drauf.«
Meine Mutter hielt sich die linke Hand vor Augen, als wolle sie nicht sehen, zu welchem Deal sie gerade ihre rechte Hand ausstreckte, um ihn mit mir zu besiegeln.
Ich konnte es kaum glauben: Ich hatte soeben mit der größten Mutterglucke der Welt einen Deal ausgemacht – zu meinen Bedingungen. Und sie hatte eingewilligt.
Jemand hat mal gesagt, dass selbst ein Spiel ehrlich sein muss. In diesem Fall war es das nicht so ganz und ich riskierte Kopf und Kragen. Noch heute musste ich mich in der Ostseeklinik abmelden, damit niemand sich bei Lisa meldete, wenn ich nicht auftauchte. Und ich hatte auch schon eine vage Idee, wie ich das mit der Absage anstellen würde.
Eine der wenigen guten Eigenschaften von Nerds ist nämlich ihr Hang zu schrägem Spielzeug. Und einen Stimmenverzerrer, der die eigene Stimme in Sekunden um Jahre altern lässt, war etwas, das Flocke ganz sicher in seinem Gesangsausrüstungsrepertoire hatte.
»Deal«, sagte ich mit fester Stimme.
»Gut«, erwiderte Lisa seufzend und ich wunderte mich über mich selbst, aber ich glaubte ihr.
*
Ich hatte keine Lust, Flockes Mutter zu begegnen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu Hause war, gegen null tendierte. Aber um an diesem Abend ganz sicherzugehen, warf ich kleine Steinchen gegen die Fensterscheibe von Flockes Zimmer im ersten Stock.
Ich hatte mehr Zeit als gedacht dafür gebraucht, die passenden Klamotten für unseren Trip auszuwählen. Wobei passend nicht ganz richtig war, denn im Grunde hatte ich nichts, was dem Anlass der Unternehmung entsprach. Die Klamotten, die in meinem Schrank hingen, hätten sogar eine sechzigjährige Bibliothekarin vor Langweile einschlafen lassen. Ausgeleierte, verwaschene Pullis und labbrige Shirts. Die Jeans gingen gerade noch so und die Chucks würde ich auf jeden Fall mitnehmen. Aber so oder so musste ich etwas unternehmen, zumal meine neue Haarfarbe schon gar nicht zu dem alten, unsichtbaren Grau-in-Grau-Look passte. Ich brauchte eine Art lässigen Groupie-Look, der aber nicht zu offensichtlich nach Groupie aussah. Etwas, das cool war, aber nicht zu auffällig.
Als nach dem vierten Steinchenwurf immer noch keine Reaktion kam – höchstwahrscheinlich spielte Flocke wieder Keyboard und probte wild für unseren Trip –, wählte ich einen haselnussgroßen Stein aus. Und siehe da – Flockes wohlgenährtes Gesicht erschien am Fenster.
»Sanny-Baby! Warum zur Hölle klingelst du nicht?«
»Hast du einen Stimmenverzerrer?«
»Ja. Wieso?«
»Ich wusste, dass du ein hoffnungsloser Fall bist.«
»Bitte?«
»Mach die Tür auf, Flocke.«
Der Anruf bei der Ostseeklinik war noch viel einfacher, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte mir die Nummer aus Lisas Unterlagen stibitzt, bevor ich mich zu Flocke rübergeschlichen hatte. Sie hatte sich für ihr neuestes Projekt eigens einen Ringordner namens Sanny/Kur/Boltenhagen angelegt, in dem sich auch alle meine aktuellen Untersuchungsergebnisse befanden.
Ich hatte Erfahrung im Umgang mit Ärzten und ich kannte mich aus im Fachjargon – schließlich hörte ich manchmal wochenlang nichts anderes. Da war es ein Leichtes, am Telefon eine überzeugende Rolle zu spielen. Frau Dr. Landmann fragte natürlich nach dem Grund für die Stornierung, aber was war einfacher, als hier eine gute Antwort zu liefern? Mein Zustand habe sich verschlechtert, erneute Langzeitkrankenhausaufenthalte seien nötig, und schon war die Ärztin auf der anderen Seite der Leitung der gleichen Überzeugung wie ich, alias Lisa Tabor: Man sollte dringend dem ärztlichen Rat folgen und die Kur verschieben, die notwendigen Dokumente könnten problemlos nachgereicht werden.
»Danke«, sagte ich zu Flocke, nachdem ich aufgelegt hatte.
»Das ist echt verrückt, was du da vorhast«, antwortete er und sah mich für mein Verständnis ein wenig zu verträumt an.
»Nicht verrückter als das, was du vorhast«, erklärte ich und stand von seinem Klappsofa auf.
»Stimmt auch wieder«, entgegnete Flocke
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