Stolz der Kriegerin
verhindern.
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Fünftes Kapitel
Erulim
I m ersten Schein des erwachenden Tages näherte sich ein Wanderer dem Südosttor von Thilionrah und reihte sich unter die Menschen ein, die dort auf Einlass warteten. Er trug einen weiten Kapuzenmantel, der seine Gestalt fast vollständig verhüllte, fiel aber den Leuten nicht nur wegen dieses Kleidungsstückes auf.
Ein Mann, der die meisten anderen überragte, musterte staunend den Fremden, der gut einen halben Kopf größer war als er selbst, und stieß einen Freund an.
»Der Reisende da ist so lang wie ein Eirun!« In seiner Stimme klang ein wenig die Hoffnung mit, einen Vertreter dieses Volkes vor sich zu sehen. Nach all dem Unglück und dem Leid, das Thilion in den letzten Jahren heimgesucht hatte, wäre dies ein Zeichen der Hoffnung gewesen.
Auch andere wandten nun ihre Aufmerksamkeit dem einsamen Wanderer zu. Dieser bemerkte es, und seine grünen Augen flammten kurz auf. Gleichzeitig vollzog er eine schnelle Handbewegung, als wolle er die Leute segnen. Auf einen Schlag erlosch das Interesse der Menschen um ihn herum, und er ging als einer der Ersten durch das Tor, das eben von den Wächtern geöffnet wurde.
Der Anführer der Wachen wollte ihn nach seinem Namen und seiner Herkunft fragen. Doch die Augen des Mannes flammten erneut auf, und der Wächter gab stumm den Weg frei.
Der Fremde durchquerte die Stadt, schritt an dem ausgedehnten, pompösen Tempelkomplex vorbei, ohne ihm einen Blick zu schenken, und hielt auf den Königspalast zu. Als er den Eingang erreichte, traten die Wachen wie von einem fremden Willen gelenkt beiseite. Auch im Palast kümmerte sich niemand um den hochgewachsenen Wanderer. Dieser durchquerte die große Eingangshalle, wandte sich den Gärten zu und erreichte nach knapp hundert Schritten einen geräumigen Pavillon. Dort öffnete sich wie von selbst die Tür, und er tauchte in eine Stille ein, die von keinem Laut gebrochen wurde. Wandbehänge, Teppiche und die Decke waren alle grün, ebenso die Türen. Selbst die Leuchtsteine strahlten ein intensives, grünes Licht aus.
Der Fremde erreichte schließlich eine Kammer, in dem ein großes Bett stand. Darauf lag ein Mann, dessen Körper mitleiderregend verformt war. Ihm fehlten ein Bein und ein Arm, und sein Gesicht bestand aus einer von Narben zerfurchten Fratze, die keinerlei Gefühle mehr ausdrücken konnte.
Zwei Männer mittleren Alters waren gerade dabei, Brei in die Öffnung zu schieben, die einmal der Mund gewesen sein musste. Auf einen Wink des Fremden standen sie auf und verließen mit einer Verbeugung den Raum. Nachdem der Besucher sich überzeugt hatte, dass die beiden das Haus verlassen hatten, trat er neben den verkrüppelten Mann.
»Ich grüße dich, Enkel!«
Der Körper des Verformten zitterte, so als wolle er sich bewegen, ohne es zu können. Dann klang eine kraftlose Stimme auf, der jede Modulation fehlte. Sie kam nicht aus dem Mund des Mannes, sondern aus dem grünen Kristall, den er auf der Brust trug.
»Ihr seid herübergekommen, Herr? Ich nahm an, Ihr wolltet länger jenseits des Stromes bleiben.«
»Ich habe meine Pläne geändert.«
Erulim schlug seine Kapuze zurück und enthüllte sein schmales Eirun-Gesicht. Selbst sein Enkel, dessen zerschlagener Körper vor ihm lag, ahnte nicht, dass er nur die grüne Erscheinung eines Wesens vor sich hatte, das zwei Farben und noch mehr Identitäten annehmen konnte.
Es war Erulim mit Hilfe von Versetzungszaubern gelungen, die Goisen-Sümpfe tief im Süden zu erreichen und sich von einem Schiffer nach Thilion bringen zu lassen. Die Zeit, die er dabei verloren hatte, schmerzte ihn, weil er seine Pläne viel zu lange nicht hatte weiterverfolgen können. Nun stellte er dem Verkrüppelten die Frage, die ihm seit Tagen auf der Zunge lag.
»Wie weit sind die Vorbereitungen für die Reise der urdilischen Prinzessin gediehen?«
»Elanah und ihre Brüder haben bereits Thilions Grenze überschritten. Sie werden in wenigen Tagen hier in Thilionrah erwartet. Reodhil ist ihnen entgegengeritten«, antwortete der Krüppel.
»Kann er überhaupt noch reiten?« Erulims Stimme klang so scharf, als erbose ihn dieser Umstand.
Aus dem Kristall erscholl ein bitteres Lachen. »Eine Heilerin aus Edessin Dareh hat sich seiner angenommen. Zwar konnte sie ihn nicht auf Dauer heilen, doch im Gegensatz zu mir geht es ihm gut.«
»Und? Hast du die Heilerin auch zu dir geholt, Neldion?«
Neldion, Fürst von Tharalin, stieß einen Laut aus, der ein
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