Stolz und Verfuehrung
wirkte die Truhe vollkommen unpassend in der Zelle -eine eigenartig leblose Gefangene.
Jonas schwang die schwere Tür mit den Gitterstäben zu und drehte den großen Schlüssel um. »Ich wollte sichergehen, dass jedermann weiß, wie sinnlos ein Versuch wäre, den jüngst gehobenen Schatz der Colytons zu stehlen.« Obwohl seine Worte als Entgegnung auf Lucifers Bemerkung gedacht waren, ruhte sein Blick auf Em.
Em nickte und verstand nun auch den Grund seiner lautstarken Verkündung in der Gaststube. Langsam lernte sie seinen Beschützerdrang zu schätzen.
»Hier.« Er streckte ihr den Schlüssel entgegen. »Du musst ihn gut verwahren.«
Em nahm den schweren Schlüssel an sich, ließ ihn in ihre Tasche gleiten. Das Gewicht zog nach unten. »Ich werde mir gut überlegen, wo ich ihn verstecke.«
Der gesamte Tag schien immer noch wie ein Traum, und sie war fast überzeugt, dass sie in Kürze aufwachen und entdecken würde, dass das Traumgebilde bedauerlicherweise nicht der Wirklichkeit entsprach.
Sie stiegen die Kellertreppe hoch und kehrten in den Schankraum zurück, der immer noch gut gefüllt war. Viele waren eingetroffen, weil sie wissen wollten, was geschehen war. Andere waren zum Essen geblieben. Als sie in die Küche schaute, stellte sie fest, dass Hilda das gut organisierte Durcheinander befehligte wie ein General.
»Die anderen warten im Wohnzimmer mit dem Dinner auf Sie«, sagte Hilda, »Sie und Mr Tallent und Mr Cynster sollten nach oben gehen. Mrs Cynster und Mr Filing, Master Henry und Ihrer Schwester sind bereits da.«
Em folgte der deutlichen Aufforderung und stieg mit Jonas und Lucifer die Stufen hinauf. Die anderen saßen wartend am Tisch; nachdem sie Platz genommen hatten, sprach Joshua das Tischgebet. Noch nie zuvor hatte sie Gott inniger für seine Wohltaten gedankt. Die Dienstmädchen servierten das Essen, und Em schickte sie gleich darauf in die Küche zu ihrem eige-nen Dinner, sodass die Familie - Jonas, Filing und die Cynsters - sich unbefangen unterhalten konnte.
Die Zwillinge gaben einige recht erschreckende Pläne zum Besten, was sie mit dem Reichtum anstellen wollten. Die überschäumende, kaum zu bändigende Stimmung der Mädchen war ansteckend, und die zwei Stunden flogen rasch vorüber. Em blieb kaum die Gelegenheit, zwischen Vorschlägen wie »ich glaube, wir sollten ein Haus in London kaufen« und »wir brauchen ein Schiff, um nach Amerika zu segeln« einen vernünftigen Gedanken zu fassen oder auch nur ein wenig höfliche Konversation zu betreiben.
Phyllida begriff. Sie fing Lucifers Blick auf, deutete zur Tür, drehte sich dann zu Em und tätschelte ihr die Hand. »Wahrscheinlich schwirrt Ihnen der Kopf. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, und Lucifer wird mir sicher zustimmen, dann überstürzen Sie nichts. Lassen Sie sich Zeit. Warten Sie ab, bis Sie die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten haben, bevor Sie eine Entscheidung treffen.« An Phyllidas Lächeln konnte Em die Ähnlichkeit mit Jonas erkennen. »Sie haben den Schatz gefunden und in Sicherheit gebracht. Das gilt auch für Sie und Ihre Familie hier in Colyton.«
Sie ließ den Blick zu Jonas und Filing schweifen, die sich gerade in eine Diskussion mit Lucifer vertieft hatten, während sie sich langsam erhob. »Sie haben sicher bemerkt, dass Sie, Issy, Henry und die Zwillinge einen Platz hier in unserer Mitte gefunden haben.«
Em fing Phyllidas dunklen Blick auf und senkte den Kopf. »Danke. Das ist ein ausgezeichneter Rat.«
Zusammen mit ihrem Ehemann brach Phyllida auf. Em überließ Issy und Joshua die Aufsicht über die endlich ermüdeten Zwillinge und bestand darauf, sich noch einmal unten in der Gaststube blicken zu lassen - als Gastwirtin.
Jonas seufzte, versuchte aber nicht, sie davon abzuhalten, sondern begleitete sie die Treppe hinunter und setzte sich zu den anderen Männern an den Tresen. Plaudernd nippte er an seinem Ale, beobachtete Em, die sich ihren abendlichen Aufgaben widmete.
Jonas vermutete, dass es ihre Art war, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Es war schon aufregend genug, nach dem Schatz zu suchen und ihn schließlich zu heben; aber die echte Erschütterung hatte sich erst eingestellt, als sie das Ausmaß dessen erblickt hatte, was ihre Vorfahren ihr als Erbe hinterlassen hatten. Eine vollkommen verständliche Erschütterung, die jeder Lady die Sprache verschlagen hätte - ganz besonders aber einem Menschen, der in den vergangenen Monaten das harte Los der Armut riskiert
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