Stolz und Verfuehrung
hatte, hatte er ihr gestanden, dass er vor der Mittagszeit kaum je welche zu Gesicht bekam.
Das würde sich ändern.
Um neun Uhr hatte Em bereits mit Hilda gesprochen, einer Frau aus dem Dorf, die früher als Köchin im Gasthaus gearbeitet hatte. Hilda hatte sofort begonnen, mit Issy Rezepte auszutauschen, was Em als gutes Zeichen wertete. Sie hatte Hilda wieder eingestellt, ebenso die zwei Mädchen, Nichten der Köchin, die ihr bereits früher in der Küche zur Hand gegangen waren. Außerdem hatte sie Bertha und May, die strammen Töchter von Hildas Cousine, angeheuert, die mit den Reinigungsarbeiten beginnen sollten.
Wie sie Jonas Tallent bereits angekündigt hatte, stand die Verbesserung des kulinarischen Angebots ganz oben auf ihrer umfangreichen Liste. Sobald sie Henry untergebracht hatte, wollte sie alle Aufmerksamkeit der Beschaffung von Vorräten für das Gasthaus widmen.
Es war ein schöner Tag. Die leichte Brise ließ die Schleifen ihrer Haube flattern und spielte mit den Bändern ihrer frühlingsgrünen Jacke, die sie über dem blassgrünen Kleid trug.
Gerade waren sie am Ententeich vorbeigekommen, als sie schwere Schritte hinter sich hörte.
»Guten Morgen, Miss Beauregard.«
Em blieb stehen, atmete kurz ein, um sich innerlich zu wappnen, und drehte sich um. »Guten Morgen, Mr Tallent.«
Sein Blick verschränkte sich mit ihrem. Der kurze Atemzug hatte nichts genutzt. Ihre Nerven zitterten immer noch. Er trug eine leichte Reitjacke über den Hosen aus Hirschleder, die sich eng an seine Oberschenkel schmiegten, bevor sie in glänzend polierten Reitstiefeln verschwanden.
Jonas hielt einen Moment inne und ließ dann den Blick zu Henry schweifen.
Der ihn aufmerksam musterte, nur einen Schritt entfernt und bereit, seine Schwester nach Kräften zu verteidigen.
»Gestatten Sie, dass ich Ihnen meinen Bruder Henry vorstelle.« Zu Henry gewandt sagte sie: »Das ist Mr Tallent, der Inhaber des Gasthauses.«
Em hoffte, dass die Titulierung ihren Bruder an die Notwendigkeit erinnern würde, sich ihrem Dienstherrn gegenüber höflich zu benehmen.
Jonas stellte fest, dass er ein zwar junges, aber sehr männliches Ebenbild seiner Gastwirtin vor sich hatte - dessen Augen genauso strahlten, obwohl die Farbe ein wenig anders war. Henry war ein großer Kerl, beinahe einen Kopf größer als seine eher zierliche Schwester; im Moment wirkte er noch schlaksig, was sich zweifellos ändern würde. Dessen ungeachtet würde niemand, der das Paar zu Gesicht bekam, die verwandtschaftliche Beziehung übersehen. Und das erklärte die aufkeimende Glut in Henry Beauregards Augen, jedenfalls für Jonas, der schließlich selbst eine Schwester hatte.
Jonas streckte ihm die Hand entgegen und nickte freundlich. »Henry.«
Der Junge blinzelte verwirrt, ergriff aber die Hand und nickte ebenfalls. »Mr Tallent.«
Jonas ließ Henrys Hand wieder los und wandte sich an die Schwester. »Wollen Sie nur ein wenig frische Luft schnappen, oder haben Sie ein bestimmtes Ziel im Sinn?«
Offensichtlich traf Letzteres zu. Denn schließlich waren sie sehr entschlossen die Straße entlanggeschritten. Em zögerte kurz. »Wir sind auf dem Weg ins Pfarrhaus«, antwortete sie schließlich.
Sie drehte sich um und nahm ihren raschen Gang wieder auf. Jonas schlenderte gemächlich neben ihr, er konnte mit Leichtigkeit Schritt halten, während Henry sich an ihrer anderen Seite hielt.
»Falls Sie zu Filing möchten, dann machen Sie auf dieser Straße einen Umweg.« Er zeigte auf einen ausgetretenen Pfad, der über die Gemeindewiese zu einem Tor am Pfarrgarten führte. »Hier entlang geht es schneller.«
Em bedankte sich, indem sie den Kopf senkte und in die angegebene Richtung schwenkte. Als sie den Pfad betrat, stützte er sie mit der Hand und ergriff hauchzart ihren Ellbogen.
Er spürte einen Blitz, der sie durchzuckte, und seine Fingerspitzen fühlten sich heiß an. Als sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, mahnte er sich, dass er sich vorgenommen hatte, sie nicht zu sehr aus der Fassung zu bringen - jetzt jedenfalls noch nicht - und ließ sie zögernd los.
Em blieb stehen, schaute ihn an. Auf dem ansteigenden Pfad konnten sie sich beinahe gleichauf in die Augen schauen. »Danke«, nickte sie mit schmalen Lippen. »Von hier aus werden wir den Weg finden. Wir möchten Sie nicht länger aufhalten.«
Er lächelte über das ganze Gesicht. »Aber Sie halten mich nicht auf. Ich bin selbst unterwegs zu Filing.«
»Ach, wirklich?« Das Misstrauen
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