Stolz und Verfuehrung
besaß keinerlei Erfahrungen, auf die sie ein Urteil gründen konnte. Dessen ungeachtet war sie felsenfest davon überzeugt, dass Gentlemen nicht befugt waren, in der Gegend herumzuposaunen, junge Ladys würden ihnen gehören.
Em mahnte sich immer wieder, den Blick von ihm abzuwenden, doch sie schien wie hypnotisiert.
Filings Predigt buhlte nicht gerade um ihre Aufmerksamkeit.
Em atmete tief durch und spürte, wie ihre Brust eng wurde. Schon möglich, dass sie die Anziehungskraft, die zwischen Jonas und ihr aufgeflammt war, nicht länger leugnen konnte - nach dem Zwischenspiel auf der Terrasse wäre jegliche Leugnung ohnehin sinnlos gewesen -, aber sie konnte dieser Anziehung noch widerstehen. Konnte der wilden Versuchung in ihrem Innern widerstehen, sich selbst und ihn auf Pfade zu locken, die sie augenblicklich nicht betreten durfte. Wege, die zu erkunden sie niemals zu träumen gewagt hätte - und die zu erkunden sie auch niemals die Gelegenheit haben würde, nicht mit einer Familie, die sich fest auf sie verließ.
Wege, über die nachzusinnen sie keine Zeit hatte. Jedenfalls nicht jetzt.
Der Gottesdienst neigte sich dem Ende zu. Alle erhoben sich. Während sie die Kirche verließen, blieb sie immer wieder stehen, um Grüße mit anderen Gemeindemitgliedern auszutauschen. Im gleichmäßigen Schritt näherte sie sich der Tür, er-reichte schließlich die ersten Grabstätten, als sie sich umdrehte und nach ihren Geschwistern Ausschau hielt. Die Zwillinge waren genau vor ihr die Treppe hinuntergestiegen und spielten Fangen zwischen den Grabmälern. Mit ihren blonden Haaren, die im Sonnenlicht golden schimmerten, sahen sie aus wie herumflitzende Engel. Weit davon entfernt, sie zu tadeln, lächelte die auseinandergehende Gemeinde über die Possen der Mädchen.
Issy war an der Tür zurückgeblieben. Filing und sie hatten die Köpfe dicht zusammengesteckt und unterhielten sich.
Was Henry betraf ... Ein paar Sekunden lang konnte Em ihn nicht erspähen und entdeckte ihn dann an dem letzten Ort, zu dem sie ihren Blick schweifen ließ, nämlich an den unteren Stufen der Kirchentreppe mit Jonas Tallent.
Mit Jonas Tallent ins Gespräch vertieft. Em spürte, wie ihr Blick sich verengte, als sie die eifrige, lebhafte Miene ihres Bruders bemerkte. Sie wollte zu ihm gehen und ihn fortziehen, zögerte aber. Sie wollte Jonas Tallent nicht noch näher kommen. Aber was war das nur für eine Geschichte, die er Henry erzählte und die in ihrem oft sehr nüchternen und sachlichen Bruder solche Begeisterung entfachte?
Ein paar Minuten später erhielt sie die Antwort. Henry trennte sich von Jonas und ließ den Blick auf der Suche nach ihr über die Menge schweifen. Jonas, der genau wusste, wo sie sich aufhielt, fing ihren Blick auf und lächelte wissend und zufrieden. Em bemerkte eine gewisse Herausforderung in seiner Miene.
Henry entdeckte sie und schlenderte zu ihr hinüber. Sein Blick strahlte. »Jonas ... Mr Tallent hat mich für heute Nachmittag zu einer Fahrt in seinem Zweisitzer eingeladen. Er fährt die Küstenstraße entlang, um irgendetwas zu überprüfen, und fragte, ob ich ihn begleiten wolle«, erklärte er eifrig, »er meinte, er wolle mir beibringen, wie man die Zügel hält. Es ist doch in Ordnung, wenn ich mitfahre, oder? Ich habe schon zugesagt ... Ich konnte mir nicht vorstellen, dass du etwas dagegen hast.«
Em widerstand der Versuchung, den Blick in Jonas Tallents Richtung zu lenken, und schaute weiterhin ihren Bruder an. Und was sie dort sehen konnte - die Begeisterung in seinen Augen, die sein ganzes Gesicht überstrahlte - machte es ihr unmöglich, die Bitte abzuschlagen. »Ja, in Ordnung. Solange du rechtzeitig zum Abendessen zurück bist.«
Henry jauchzte vor Freude, schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, eilte zu Jonas zurück - der klugerweise Abstand hielt -und bestätigte die Verabredung.
»Warum hat er Henry gefragt und nicht uns?«
Em schaute zu Gertie hinunter, die gerade noch rechtzeitig aufgetaucht war, um Henrys Neuigkeiten aufzuschnappen. Bea stand einen Schritt hinter ihr und deutete einen Schmollmund an.
»Alter kommt vor Schönheit«, erläuterte Em, »aber jetzt müssen wir nach Hause.«
Nach Hause, das hieß: zum Gasthaus. Seltsam, wie es schon nach so kurzer Zeit zu ihrem Zuhause geworden war. Em trieb die Zwillinge vor sich her und warf einen Blick auf Issy, der das Zeichen des unmittelbar bevorstehenden Aufbruchs nicht entgangen war. Eilig verabschiedete sie sich von Filing und
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