Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Und Onkel muß ich um noch einen besonderen Gefallen bitten: Vater fährt heute noch mit Oberst F. nach London, um zu versuchen, die beiden ausfindig zu machen. Wie er das anstellen will, weiß ich zwar nicht, aber ich weiß, daß er zu aufgeregt und besorgt ist, um klar denken und handeln zu können, und Oberst Forster muß morgen abend wieder bei seinem Regiment sein. Unter diesen Umständen wären der Rat und die Hilfe von Onkel mehr wert als irgend etwas anderes. Ich bin sicher, daß er mich verstehen wird und daß ich mich auf seine Anhänglichkeit an uns verlassen kann.‹
»Ach, wo ist Onkel bloß hingegangen?« rief Elisabeth hier aus und stürzte, ohne einen Augenblick zu verlieren, zur Tür. Aber gerade als sie sie aufmachen wollte, wurde sie von draußen geöffnet und Darcy stand vor ihr. Als er sie so aufgeregt und mit so bleichem Gesicht plötzlich vor sich sah, wich er unwillkürlich betroffen zurück, und bevor er sich wieder fassen konnte, rief Elisabeth, die nur Gedanken für ihre Schwester hatte: »Entschuldigen Sie, ich muß gleich fort. Ich muß meinen Onkel finden. Es ist dringend, ich darf keine Sekunde zögern!«
»Mein Gott, was ist denn los?« rief er, von ihrer Erregung angesteckt, weniger höflich als überrascht aus. »Ich will Sie nicht aufhalten«, fuhr er dann beherrschter fort, »aber lassen Sie doch mich oder lassen Sie den Diener Ihren Onkel suchen. Ihnen ist nicht wohl; Sie dürfen nicht selbst gehen.«
Elisabeth zögerte, aber sie fühlte, wie ihre Knie zu zittern begannen, und sie wußte, daß nichts damit gewonnen sei, wenn sie sich jetzt auf die Suche machen wollte. Sie rief deshalb nach dem Diener und trug ihm so hastig und atemlos auf, Mr. Gardiner zurückzurufen, daß er sie kaum verstehen konnte.
Sie mußte sich setzen, die Schwäche drohte sie zu übermannen. Sie sah so mitleiderregend aus, daß es Darcy unmöglich war, sie jetzt allein zu lassen; er konnte sich nicht enthalten, voll Mitgefühl zu sagen: »Lassen Sie mich das Zimmermädchen rufen. Kann ich nicht irgend etwas für Sie tun? Ihnen etwas holen? Etwas zu trinken? Möchten Sie vielleicht ein Glas Wein?«
»Nein, danke!« erwiderte sie und machte einen Versuch, ihre Fassung wiederzugewinnen, »mir fehlt bestimmt nichts. Ich bin ganz wohl, ich bin nur etwas in Sorge wegen einer sehr schlechten Nachricht, die ich eben von Longbourn erhalten habe.«
Bei diesen Worten brach sie in Tränen aus und war außerstande, weiterzusprechen. Darcy konnte nur hilflos und voller Besorgnis dabeistehen und sie mit tiefem Mitleid betrachten. Endlich hatte sie sich wieder in der Gewalt und erzählte stockend: »Ich habe gerade einen Brief von Jane erhalten, in dem sie mir etwas Schreckliches mitteilt. Es wird doch nicht lange verborgen bleiben können. Meine jüngste Schwester ist auf und davon gegangen — mit — mit Wickham. Sie sind beide aus Brighton verschwunden. Sie kennen ihn gut genug, um zu wissen, was das bedeutet. Lydia hat keine Freunde, kein Geld, nichts, was ihn hätte locken können — sie ist auf immer verloren!«
Darcy war sprachlos vor Erstaunen und Entsetzen.
»Wenn ich daran denke«, fuhr sie aufs neue erregt fort, »daß ich es hätte verhindern können! Ich, die ich ihn doch kannte! Hätte ich nur einen Teil, einen kleinen Teil von dem, was ich wußte, daheim erzählt. Wenn meine Eltern sich über seinen wahren Charakter klar gewesen wären, hätte das hier nicht geschehen können! Aber jetzt ist es zu spät!«
»Ich kann Ihren Kummer nachfühlen«, rief Darcy, »es ist wirklich entsetzlich! Aber sind Sie ganz sicher? Ist kein Irrtum möglich?«
»Leider nein! Sie sind zusammen von Brighton fortgefahren; dann hat man noch bis dicht vor London ihre Spur verfolgen können, und danach sind sie verschwunden!«
»Und was ist getan worden, um sie wiederzufinden, um sie wieder zurückzuholen?«
»Mein Vater ist sofort nach London gefahren, und Jane bittet in dem Brief meinen Onkel, zurückzukommen, um ihm zu helfen. In einer halben Stunde, hoffe ich, sind wir schon auf dem Weg. Aber es nützt ja nichts, ich weiß, daß es nichts nützen kann. Was kann man gegen einen solchen Menschen tun? Wie soll man sie auch nur ausfindig machen? Ach, es ist schrecklich!«
Darcy konnte ihr nur schweigend durch ein Kopfnicken zustimmen.
»Und ich wußte doch, was für ein Mensch er ist! Aber ich hatte Angst, etwas zu sagen. Schrecklich! Schrecklich!«
Darcy erwiderte nichts. Er schien ihr kaum noch zuzuhören und ging
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