Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Sorgen zu teilen, die jetzt ganz allein auf ihr lasteten, nachdem ihr Vater abgereist und ihre Mutter unfähig war, irgend etwas anderes zu tun, als sich pflegen zu lassen. Obwohl sie im Grunde ihres Herzens davon überzeugt war, daß für Lydia nichts mehr getan werden konnte, baute sie doch fest auf die Hilfe ihres Onkels, und bis er endlich in das Zimmer trat, übertraf ihre Ungeduld fast noch ihren Kummer.
Mr. und Mrs. Gardiner waren auf dem kürzesten Wege zurückgeeilt, da sie aus den Worten des Dieners geschlossen hatten, daß ihre Nichte plötzlich erkrankt sei. Elisabeth beruhigte ihre Verwandten sogleich hierüber; sie teilte ihnen mit, weshalb sie sie hatte zurückrufen lassen, und las ihnen dann die beiden Briefe vor.
Mr. und Mrs. Gardiner zeigten sich tief betroffen. Es handelte sich ja nicht allein um Lydia, sondern um die ganze Familie, und Mr. Gardiner versprach, alles zu tun, was in seiner Macht lag. Elisabeth hatte gar nichts anderes von ihm erwartet, aber sie dankte ihm mit Tränen in den Augen. Und da alle drei nun den gleichen Wunsch hatten, beschloß man, sofort aufzubrechen.
»Aber was wird mit Pemberley?« warf Mrs. Gardiner ein. »John sagte uns, Darcy sei vorhin hier gewesen. Stimmt das?«
»Ja, ich habe ihm schon gesagt, daß wir nicht kommen können. Das ist alles erledigt.«
»Was ist erledigt?« wiederholte Mrs. Gardiner für sich selbst, während sie auf ihr Zimmer eilte, um sich zur Abreise fertig zu machen. »Stehen sie sich so gut, daß sie ihm alles gesagt hat? Wenn ich doch bloß Näheres wüßte!«
Aber ihre Neugierde half ihr nichts oder doch nur so weit, um sie während des Trubels und der Aufregung der nächsten Stunde ein wenig abzulenken. Hätte Elisabeth die Möglichkeit gehabt, nichts zu tun, dann wäre sie bestimmt auch überzeugt gewesen, daß sie in ihrem niedergeschlagenen Zustand nichts hätte tun können. Aber sie hatte ebensoviel mit Packen und Richten zu tun wie ihre Tante, und außerdem mußte sie noch einige Briefe an deren Freunde in Lambton schreiben, um ihnen mit irgendwelchen Entschuldigungen ihre hastige Abreise verständlich zu machen. In einer Stunde indessen war man mit allem fertig. Mr. Gardiner hatte inzwischen schon die Rechnung beglichen, und so blieb denn nichts weiter übrig, als aufzubrechen.
Gleich darauf waren sie auf dem Rückweg nach Longbourn.
47. KAPITEL
» I ch habe es mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen, Elisabeth«, sagte Mr. Gardiner, als Lambton bereits hinter ihnen lag, »und möchte nach genauer Überlegung doch meinen, daß Jane vielleicht nicht so unrecht hat mit ihrer Ansicht. Es kommt mir recht unwahrscheinlich vor, daß ein Mann wie Wickham solch eine Gemeinheit gegen ein Mädchen im Schilde führen sollte, das doch keineswegs allein und schutzlos in der Welt dasteht und das zudem noch Gast seines Obersten war, so daß ich jetzt eigentlich geneigt bin, die Sache hoffnungsvoller anzusehen. Er muß sich doch denken können, daß ihre Freunde und Verwandten sie nicht im Stiche lassen werden, und er wird sich auch überlegt haben, daß er nach einer solchen Beleidigung Oberst Forsters sich in seinem Regiment unmöglich wieder blicken lassen kann. Nein, die Versuchung kann nicht so groß sein wie das Risiko, das er läuft.«
»Glaubst du das wirklich?« fragte Elisabeth, froh über diesen Hoffnungsstrahl.
»Tatsächlich«, meinte Mrs. Gardiner, »ich glaube, dein Onkel hat recht. Wickham wird sich nicht eines so groben Verstoßes gegen jeden Anstand und jede Ehre und gleichzeitig gegen seine eigenen Interessen schuldig machen. Für so schlecht halte ich Wickham nicht. Und du selbst, Lizzy, hältst du ihn für so verderbt, daß du ihm das zutrauen könntest?«
»Nein, Mangel an Egoismus traue ich ihm allerdings nicht zu, aber sonst halte ich ihn zu allem fähig. Ach, wenn es doch nur so wäre, wie ihr sagt! Aber ich wage nicht zu hoffen. Warum sind sie denn nicht nach Gretna Green gefahren?«
»Wir wissen ja gar nicht mit Bestimmtheit, ob sie nicht doch dahin gefahren sind«, erwiderte Mr. Gardiner.
»Aber warum sollten sie denn sonst ihren Weg statt in der Postkutsche in einem gemieteten Wagen fortgesetzt haben? Und außerdem hat niemand sie auf der Landstraße nach Schottland vorbeikommen sehen.«
»Nun gut, nehmen wir an, sie sind wirklich nach London gefahren. Vielleicht geschah das nur aus dem einen Grunde, weil sie sich dort besser verborgen halten können. Geld haben sie bestimmt beide nicht im Überfluß,
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