Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
weiß, nicht einen einzigen hübschen Zug hat sie an sich, ihre Nase ist ausdruckslos, ihre Zähne sind ja ganz ordentlich, aber auch nichts Besonderes; und was ihre Augen anlangt, die manche Menschen sogar schön nennen, an denen habe ich nie etwas entdecken können, was mich begeistert hätte. Im Gegenteil, ich finde, sie haben so etwas Stechendes und Unstetes, das ich nicht ausstehen kann. Und ihre ganze Haltung ist so aufgeblasen und so unweiblich, daß es wirklich unerträglich ist, sich das ansehen zu müssen!«
Da Caroline wußte, daß Darcy Elisabeth bewunderte, hätte sie keine größere Dummheit begehen können; aber Ärger und Klugheit wohnen selten beisammen. Darcy schwieg; doch entschlossen, ihn um jeden Preis zum Reden zu bringen, fuhr sie nach kurzem fort.
»Ich weiß noch, wie erstaunt wir waren, als wir sie zum ersten Mal in Hertfordshire kennenlernten, nachdem wir so viel von ihrer Schönheit gehört hatten! Und ich erinnere mich noch sehr gut, wie Sie nach einem Essen auf Netherfield sagten: ›Das soll eine Schönheit sein? Ebensogut könnte man ihre Mutter geistreich nennen!‹ Später schien sie Ihnen allerdings besser zu gefallen; ich glaube sogar, daß Sie sie zeitweilig ganz hübsch fanden!«
»Stimmt!« antwortete Darcy, der nicht länger an sich halten konnte, »aber das sagte ich damals auch nur, weil ich sie erst ganz flüchtig kannte. Jetzt sind es schon viele Monate her, seit ich der Meinung bin, daß sie von den Damen meines ganzen Bekanntenkreises mit am besten aussieht.«
Damit verließ er das Zimmer, und Miss Bingley durfte sich in aller Ruhe darüber freuen, daß es ihr gelungen war, ihn zu einer Bemerkung zu zwingen, die nur ihr selbst Ärger bereiten konnte.
Mrs. Gardiner und Elisabeth unterhielten sich über alles, was während ihres Besuches geschehen war, nur über das nicht, was ihnen beiden am meisten am Herzen lag. Sie sprachen über das Aussehen und das Benehmen aller andern, nur nicht von dem einen Menschen, dem ihre Aufmerksamkeit vorwiegend gegolten hatte. Sie redeten von seiner Schwester, seinem Hause, seinen Freunden, seinem Teegeschirr und dem köstlichen Obst —, nur von ihm selbst nicht. Und die ganze Zeit brannte Elisabeth darauf, zu erfahren, was ihre Tante von ihm hielt, und ihre Tante hätte es dankbar begrüßt, wenn ihre Nichte es ihr durch irgendein Stichwort ermöglicht hätte, sich darüber auszulassen.
46. KAPITEL
E lisabeth war schon bei ihrer Ankunft in Lambton sehr enttäuscht gewesen, keine Nachricht von Jane vorzufinden, und hatte seitdem jeden Morgen vergebens die Post abgewartet. Endlich am dritten Tag erhielt sie gleich zwei Briefe auf einmal. Der eine war zuerst fehlgegangen, was nicht weiter erstaunlich war, denn die Adresse war wirklich kaum leserlich.
Sie hatten sich gerade zu einem Spaziergang fertig gemacht, als die Post eintraf, und die Gardiners brachen nun allein auf, um Elisabeth in Ruhe ihre Briefe lesen zu lassen. Sie öffnete zuerst den fehlgegangenen, der schon vor fünf Tagen geschrieben war. Der erste Teil enthielt die üblichen Berichte über Gesellschaften und Vergnügungen und sonstige Nachrichten und Neuigkeiten von der Familie und den Nachbarn. Aber die zweite Hälfte, die einen Tag später datiert und in offensichtlicher Erregung geschrieben war, erzählte ganz andere Dinge. Dort las Elisabeth wie folgt:
›Seit ich gestern schrieb, liebe Lizzy, ist etwas höchst Unerwartetes und Besorgniserregendes eingetreten; aber ich will dich nicht beunruhigen — uns hier geht es allen sehr gut. Was ich dir jetzt mitteilen muß, betrifft die arme Lydia. Gestern nacht um zwölf kam ein Eilbrief von Oberst Forster, in dem er uns mitteilte, daß Lydia mit einem seiner Offiziere nach Schottland abgereist sei, und zwar mit Wickham! Stell’ dir unser Entsetzen vor! Kitty schien noch am wenigsten überrascht zu sein. Ich bin sehr, sehr betrübt. Solch eine Unklugheit von den beiden! Doch ich hoffe, daß es gut ausgeht und daß wir uns in seinem Charakter geirrt haben. Unbedacht und unbeherrscht mag er wohl sein, aber wenigstens beweist dieser Schritt, daß er im Grunde nicht schlecht ist. Ihn kann ja bei dieser Wahl keine Berechnung getrieben haben, denn er weiß, daß Vater ihnen nichts wird geben können. Unsere arme Mutter ist ganz niedergeschlagen, Vater trägt es mit mehr Ruhe. Wie dankbar bin ich jetzt, daß die Eltern nie erfahren haben, was über ihn gesprochen wird. Wir selbst müssen versuchen, es schnell zu vergessen. Man
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