Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
mit nachdenklichem, ernstem Gesicht im Zimmer auf und ab. Elisabeth bemerkte es und fand gleich die Erklärung: jetzt hatte sie ihn erst völlig verloren. Es war ja auch gar nicht anders möglich nach diesem erneuten Beweis der Minderwertigkeit ihrer Familie, bei dem unvermeidlichen Schimpf und der Schande, die ihre Familie jetzt treffen mußten. Es überraschte sie nicht, und sie konnte es ihm auch nicht übelnehmen, aber das Bewußtsein, daß er sich jetzt endgültig von seiner Neigung zu ihr freigemacht haben mußte, brachte ihr keinen Trost und vermochte ihren Schmerz in keiner Weise zu mildern. Im Gegenteil, jetzt erst wurde sie sich über ihre eigenen Gefühle auf einmal ganz klar. Nie zuvor hatte sie so gewußt, wie sehr sie ihn hätte lieben können, wie jetzt, wo ihre Liebe ihm nichts mehr bedeuten konnte.
Aber sie gab ihren selbstsüchtigen Überlegungen nicht lange Raum. Lydia, die Demütigung, der Schmerz, den sie ihnen allen verursacht hatte, vertrieben bald alle Gedanken an ihre eigenen Sorgen. Das Gesicht hinter ihrem Taschentuch verborgen, gab Elisabeth sich hemmungslos ihrem Kummer hin. Erst nach längerer Zeit wurde sie wieder an ihren Besucher erinnert, als er mit einer Stimme, die in gleicher Weise Mitleid wie die alte Zurückhaltung verriet, zu ihr sagte: »Ich glaube, Sie müssen schon lange gewünscht haben, daß ich gehe, und ich habe auch keinen Grund zu bleiben außer der großen Sorge, die ich aufrichtig mit Ihnen teile. Wollte Gott, ich könnte etwas tun oder sagen, was Sie ein wenig zu trösten imstande wäre. Aber ich will Sie nicht mit Phrasen belästigen, die den Eindruck erwecken könnten, als sei es mir um Ihren Dank zu tun. Ich fürchte, meine Schwester wird Sie infolge dieses unglückseligen Vorfalles heute abend nicht wieder auf Pemberley begrüßen dürfen.«
»Nein, natürlich nicht. Bitte, entschuldigen Sie uns bei Ihrer Schwester. Sagen Sie ihr, ein dringliches Geschäft habe meinen Onkel nach London zurückgerufen. Verheimlichen Sie die traurige Wahrheit so lange wie möglich. Sehr lange wird sie ja leider doch nicht geheim bleiben können.«
Er versicherte sie seines Schweigens, drückte ihr wieder sein Mitgefühl aus, gab seiner Hoffnung Ausdruck, daß schließlich doch alles zu einem glücklicheren Ende kommen möge, als man im Augenblick hoffen könne, bat sie, ihn ihren Verwandten zu empfehlen — und ging.
Als er das Zimmer verlassen hatte, fuhr Elisabeth der Gedanke durch den Kopf, daß sie ihm jetzt wohl nie wieder so nahe kommen werde, wie sie es während ihres Aufenthaltes hier gewesen war; und als sie ihre ganze Bekanntschaft mit ihm — so voller Widersprüche und Schwierigkeiten — noch einmal bedachte, mußte sie über den Widersinn ihrer Gefühle seufzen, die jetzt eine Fortsetzung wünschten, nachdem sie noch kürzlich ihre Beendigung herbeigesehnt hatten.
Seitdem Elisabeth den zweiten Brief gelesen hatte, glaubte sie nicht einen Augenblick mehr, daß Wickham eine Heirat mit Lydia beabsichtigte. Nur eine Jane, dachte sie, konnte sich solchen Hoffnungen hingeben. Erstaunt — ja, erstaunt war sie gewesen, als sie im ersten Brief las, daß Wickham ein Mädchen heiraten wolle, das kein Vermögen besaß; wie Lydia das fertig gebracht hatte, war ihr, während sie das las, ein Rätsel. Aber jetzt war gar nichts Rätselhaftes mehr an der ganzen Geschichte. Um das fertigzubringen, dazu genügten Lydias Reize bei weitem. Elisabeth glaubte zwar nicht, daß Lydia bewußt in eine Entführung ohne Aussicht auf Heirat eingewilligt hatte, aber sie erinnerte sich auch, daß ihre Schwester weder Tugend noch Vernunft genug besaß, die sie daran hindern konnten, einem Verführer als leichte Beute zuzufallen. Elisabeth entsann sich nicht, bemerkt zu haben, daß Lydia für Wickham in Hertfordshire eine besondere Neigung gezeigt hatte. Sie war sich jedoch niemals im Zweifel darüber gewesen, daß Lydia bereit sein würde, irgendeinem beliebigen Mann auf die geringste Aufmunterung hin ihre Neigung zu schenken. Bald hatte sie diesen, bald jenen Offizier vorgezogen, je nachdem, welcher von ihnen ihr gerade die meisten Aufmerksamkeiten erwies. Sie war immer für jemanden begeistert gewesen, aber niemals lange für ein und denselben. Wie töricht, daß man ein solches Mädchen sich selbst überlassen hatte —, wie eindringlich wurde ihr das jetzt klar!
Sie konnte es gar nicht mehr erwarten, nach Hause zu fahren, um zu hören, zu sehen, mit Jane zusammen zu sein und mit ihr die
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