Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
und ich kann mir gut denken, daß sie sich überlegt haben, daß eine Trauung in London zwar umständlicher, aber auch sehr viel billiger ist als in Schottland.«
»Und wozu diese Geheimtuerei? Warum diese Angst, entdeckt zu werden? Wozu überhaupt diese heimliche Heirat? Ach nein, ich glaube das alles nicht. Jane schreibt ja auch, daß sein bester Freund überzeugt ist, er habe niemals an eine Heirat mit Lydia gedacht. Wickham würde es gar nicht einfallen, eine Frau ohne Vermögen zu heiraten. Er könnte es sich ja auch nicht leisten. Und was kann Lydia ihm bieten? Was besitzt sie außer ihrer Jugend und ihrer unbekümmerten Laune, daß es sich für ihn lohnen würde, seine Hoffnungen auf eine reiche Heirat ihretwegen zu begraben? Ich kann nicht beurteilen, ob die Furcht, durch eine so unehrenhafte Handlung bei seinem Regiment in Verruf zu kommen, in Wirklichkeit für ihn ein großes Hindernis darstellt; ich weiß zu wenig, welche Folgen dieser Schritt für ihn haben kann. Aber dein anderer Einwand ist, fürchte ich, wenig stichhaltig. Lydia hat keine Brüder, die für sie eintreten könnten; und nach dem, was er von der Gleichgültigkeit gesehen hat, mit der Vater alles betrachtet, was in der Familie vorgeht, mag Wickham leicht auf den Gedanken gekommen sein, daß Vater in dieser Angelegenheit sicherlich weniger unternehmen wird als irgendein anderer Vater.«
»Aber meinst du wirklich, daß Lydia so hemmungslos in ihrer Liebe ist, daß sie auch anders als verheiratet mit ihm leben würde?«
»Es klingt schrecklich, und es ist auch schrecklich«, erwiderte Elisabeth mit Tränen in den Augen, »daß man die Tugend und die Anständigkeit seiner eigenen Schwester in Zweifel ziehen muß, aber ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Vielleicht tue ich ihr unrecht. Sie ist noch so jung. Niemand hat sie je dazu angehalten, ernsthaft über etwas nachzudenken; und während des letzten halben, oder nein, des ganzen Jahres hat sie ausschließlich ihren Vergnügungen und ihrer Eitelkeit gelebt. Niemand verwehrte es ihr, ihre Zeit in der törichtesten, leichtsinnigsten Weise zu vertrödeln und nur zu tun, was ihr gerade in den Sinn kam. Seitdem das Regiment nach Meryton gelegt wurde, hat sie nichts anderes als ihre Flirts mit den Offizieren im Kopf gehabt. Dadurch, daß sie ständig von nichts anderem geredet, an nichts anderes gedacht hat, ist ihre Leichtfertigkeit und Hemmungslosigkeit noch gestiegen. Und wir kennen ja alle Wickham und wissen, daß er genügend Anziehungskraft besitzt, um, wenn er es ernstlich darauf anlegt, eine Frau verführen zu können.«
»Aber du siehst ja, Jane glaubt auch nicht, daß Wickham so schlecht sein kann«, meinte ihre Tante.
»Von wem hätte Jane je etwas Schlechtes gedacht? Und wen würde sie je einer solchen Schlechtigkeit für fähig halten, ganz gleich, was für Untaten er früher auch begangen haben mag, ehe er nicht völlig seiner Tat überwiesen ist? Denn Jane kennt Wickham so gut wie ich. Wir wissen beide, daß er liederlich gelebt hat, liederlich in der vollsten Bedeutung des Wortes; daß er weder Anstand noch Ehre respektiert; daß er ebenso falsch und hinterhältig ist, wie er einnehmend zu wirken versteht.«
»Woher weißt du denn das alles?« fragte Mrs. Gardiner erstaunt und voller Neugierde, woher ihre Nichte diese Kenntnis wohl haben könne.
»Ihr wißt doch«, sagte Elisabeth errötend, »ich erzählte euch neulich, wie schändlich er sich gegen Mr. Darcy aufgeführt hat; und ihr habt ja selbst auf Longbourn erlebt, wie er von dem Menschen sprach, der ihm gegenüber solche Langmut und Großzügigkeit bewiesen hat. Und es gibt noch manches andere, was ich euch aber nicht erzählen darf —, ich meine, was euch nicht interessieren würde. Aber glaubt mir, er hat ungezählte Lügen über die Pemberley-Familie verbreitet! So, wie er mir zum Beispiel Miss Darcy geschildert hatte, erwartete ich, eine hochmütige, unausstehliche junge Dame kennenzulernen; ihr wißt ja selbst, wie wenig zutreffend diese Schilderung ist. Und er muß es ebensogut gewußt haben, daß sie so liebenswürdig und bescheiden ist, wie wir sie gefunden haben.«
»Aber weiß denn Lydia nichts von alledem? Sollte sie etwa noch nicht erkannt haben, was du und Jane offenbar so gut herausgefunden habt?«
»Das ist ja gerade das Schlimme! Bevor ich in Kent war und Darcy und seinen Vetter Fitzwilliam näher kennenlernte, wußte ich ja selbst die Wahrheit nicht. Und als ich nach Hause
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