Stolz und Vorurteil - Vollständige Ausgabe (German Edition)
nimmt an, daß sie Sonnabend nachts fortgefahren sind, aber sie wurden erst gestern früh vermißt. Der Eilbrief an uns wurde unmittelbar darauf abgeschickt. Meine liebe Lizzy, sie müssen ganz in unserer Nähe vorbeigekommen sein. Oberst Forster kündigt uns an, daß wir ihn so bald wie möglich bei uns erwarten dürften. Lydia hat seiner Frau ein paar Zeilen hinterlassen, in denen sie ihr ihre Absicht mitgeteilt hat. Ich muß jetzt Schluß machen, denn ich will unsere arme Mutter nicht zu lange allein lassen. Ich fürchte, du wirst aus all dem gar nicht recht klug werden; ich weiß selbst schon kaum noch, was ich geschrieben habe.‹
Ohne sich Zeit zum Überlegen zu lassen und ohne den Gedanken, die sie von allen Seiten bestürmten, nachzugehen, riß Elisabeth mit vor Ungeduld zitternden Fingern den zweiten Brief auf, der um einen Tag später datiert war.
›Du wirst mittlerweile meinen in aller Eile geschriebenen Brief erhalten haben, liebste Lizzy. Ich hoffe, daß ich heute etwas verständlicher werde berichten können, aber in meinem Kopf geht alles noch so drunter und drüber, daß ich es dir nicht versprechen kann. Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll, doch ich habe Nachrichten für dich, die ich dir nicht vorenthalten darf, wenn sie auch recht schlimm sind. So töricht und aussichtslos eine Heirat zwischen Lydia und Wickham sein mag, so hoffen wir doch jetzt voller Besorgnis, daß sie stattgefunden hat; denn es sieht so aus, als seien die beiden gar nicht nach Schottland gefahren. Oberst Forster kam gestern spät abends noch hier an. Lydia hatte zwar in ihrem kurzen Brief an Mrs. Forster angedeutet, daß sie nach Gretna Green fahren wollten, aber Oberst Forster hörte von Denny, daß Wickham das keineswegs beabsichtigt habe und daß er auch gar nicht daran denke, Lydia zu heiraten. Deshalb ist er, Oberst Forster, sogleich aufgebrochen, um sie, wenn möglich, noch einzuholen. In Clapham verlor er aber jede Spur von ihnen, da sie dort die Postkutsche verlassen und einen privaten Wagen gemietet hatten. Man konnte ihm nur noch sagen, daß man sie in Richtung London habe weiterfahren sehen. Oberst Forster folgte dann der Straße bis nach London, ohne etwas erfahren zu können, dann wandte er sich nach Hertfordshire, wo er bei allen Mautstellen und in allen Gasthäusern Erkundigungen einzog, jedoch überall ohne irgendwelchen Erfolg. Niemand hatte das Paar, das er genau beschrieb, vorüberkommen sehen. In seiner wirklich rührenden Besorgnis kam er darauf hierher und teilte den Eltern seine Befürchtungen auf das schonendste und teilnahmsvollste mit. Er und seine Frau tun mir schrecklich leid, aber sie haben sich in dieser Angelegenheit gewiß nichts vorzuwerfen.
Unsere Sorge hier ist natürlich sehr groß, liebe Lizzy. Mutter und Vater befürchten das schlimmste, wenn ich selbst auch noch nicht so schlecht von ihm denken kann. Es ist immerhin möglich, daß sie aus diesem oder jenem Grund es vorgezogen haben, ihren ursprünglichen Plan aufzugeben und sich in irgendeiner kleinen Stadt trauen zu lassen. Und selbst wenn er imstande wäre, etwas so Niederträchtiges gegen ein junges Mädchen im Schilde zu führen — was ich nicht glaube —, soll ich annehmen müssen, daß Lydia sich dazu hergeben könnte? Niemals! Unmöglich! Es bekümmert mich nur, daß Oberst Forster mich bat, mich nicht allzu großen Hoffnungen hinzugeben, als ich mit ihm sprach; er meinte, W sei ein Mensch, dem man nicht trauen dürfe.
Unsere arme Mutter ist richtig krank und hat sich zu Bett legen müssen; es wäre besser, wenn sie sich mit etwas beschäftigen würde, aber das ist wohl zuviel verlangt. Vater habe ich noch nie so niedergeschlagen gesehen. Die arme Kitty ist sehr gescholten worden, weil sie nie etwas von den Beziehungen der beiden zueinander gesagt hat. Aber man kann ihr das eigentlich nicht vorwerfen, da das wohl eine Vertrauenssache zwischen ihr und Lydia war. Ich bin nur froh, liebe Lizzy, daß du die ganze Aufregung nicht hast miterleben müssen, doch vermißt habe ich dich sehr, und ich wünschte, du wärest hier. Aber ich will nicht so selbstsüchtig sein und dich drängen, deine Reise unsertwegen zu unterbrechen. Lebe wohl!‹
›Nachschrift:
Nun muß ich dich doch um eben das bitten, worum ich dich nicht bitten wollte, aber ich sehe keine andere Wahl: versucht doch alle, so bald wie möglich zurückzukommen! Ich kenne meine lieben Verwandten gut genug, um zu wissen, daß ich diese Bitte an sie richten darf.
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