Stone Girl
betreten. Sethie ist stolz, so von Janey eingeschätzt zu werden. Janey ist dünn und ihre Haut straff, also muss sie Körper gut beurteilen können.
»Der Trick ist«, erklärt Janey, während sie aus dem Aufzug in den fünften Stock treten, »dass die Kleider ganz dicht am Körper anliegen müssen. Wir brauchen enge Jeans und Sweaters. So bleiben wir warm und sehen dabei auch noch gut aus.«
»Ganz dicht«, sagt Sethie. Sogar in ihrem Mund fühlt sich das Wort beklemmend an, wie ein BH-Träger, der ihr in die Schulter einschneidet, wie ein Gummizug, der einen linienförmigen Abdruck auf ihrem Bauch hinterlässt und ihn unfairerweise so aussehen lässt, als hätte sich dort eine Menge Fett angesammelt, wo doch in Wirklichkeit nur die Haut zu fest zusammengequetscht wurde. Wenn es nach Sethie geht, sind zu enge Kleider nie gut. Sie denkt an ihre Schuluniform oder an die fetten Tage, an denen ihr ihre Jeans nicht passen, obwohl die Waage genau dasselbe anzeigt wie am Tag zuvor. Aber Janeys Definition von »dicht anliegend« scheint eine ganz andere zu sein, und diese neue Deutung ist aufregend.
»Früher haben sie ›dicht‹ immer im Sinne von ›betrunken‹ verwendet«, behauptet Janey. »So à la: Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald waren dicht.«
»Echt?«
»Glaube schon. Also, so war es ja wohl gemeint.« Janey zuckt die Achseln. »Na egal, jedenfalls gefällt es mir. Wir sollten das wieder aufleben lassen. Oder neu erfinden, falls ich es falsch verstanden habe.«
Sethie wäre gerne ein bisschen mehr wie Janey, mehr wie ein Mädchen, das keine Angst davor hat, zuzugeben, sie könne einen Ausdruck, den sie nur ein- oder zweimal gehört hat, falsch verstanden oder selbst erfunden haben. Janey ist sehr mutig.
»Vielleicht sollten wir dem Begriff eine eigene Bedeutung geben, eine etwas andere«, meint Sethie vorsichtig.
»Gute Idee! Aber um was auszudrücken?«
Sethie überlegt. »Für das perfekt sitzende Outfit. So wie in: ›Janey, du siehst heute Abend total dicht aus‹!«
Janey lacht. »Find ich super«, sagt sie und läuft zu einem Tisch, der über und über mit Jeans bedeckt ist.
»Wie wär’s mit diesen Jeans?« Janey hält eine Hose hoch, die selbst zusammengefaltet im Regal noch hauteng aussehen würde.
»So eine Jeans kann ich nicht anziehen«, sagt Sethie.
»Das stimmt nicht, die sind perfekt. Wart’s nur ab. Bei deinen dünnen Beinen wird das klasse aussehen.«
Janey schnappt sich die Jeans. Sie fragt Sethie nicht nach ihrer Größe und Sethie teilt sie ihr auch nicht mit. Sie ist neugierig, welche Größe Janey wohl für sie ausgewählt hat.
»Willst du sie denn nicht auch anprobieren?«, fragt Sethie.
»Nee, meine Beine sind nicht wie deine.«
An Janeys Tonfall merkt Sethie, dass die Freundin ihr ein Kompliment gemacht hat. Aber sie merkt auch, dass Janey so klingt, als habe sie kein Problem mit ihren anders geformten Beinen. Sie wird ebenfalls coole Klamotten finden, die genau auf ihren Körper zugeschnitten sind.
Und genau so ist es. Wobei eigentlich Sethie sie zuerst findet. Eine eng geschnittene Hose aus Leder. Sie weiß, sie ist perfekt für Janey, und als sie sie hochhält, stößt Janey einen schrillen Schrei aus. Im Gegensatz zu Sethie schaut Janey nicht auf das Preisschild. Sethie sieht, dass die Hose 300 Dollar kostet. Und sie weiß noch nicht, was die Hose kostet, die Janey für sie ausgesucht hat.
»Oh mein Gott, Sethie, du hast so einen guten Geschmack!«
Sethie grinst. »Das ist dein Stil, nicht meiner.«
»Bist du sicher, dass du die nicht auch anprobieren willst?«
Sethie schüttelt den Kopf. »Nö«, sagt sie. »Die sehen ganz nach dir aus.« Und genau so meint sie es auch. In dem Moment, als sie die Hose gesehen hat, wusste sie, dass es Janeys war. Doch jetzt kann Janey ihre Größe nicht finden. Eine Verkäuferin nähert sich, als sie Janey wie wild in dem Stapel wühlen sieht.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Das hoffe ich doch«, sagte Janey, die nach ihrer Suche ganz außer Atem ist. »Ich brauche die hier in Größe 34. Bitte sagen Sie, dass Sie noch eine im Lager haben!«
»Die sind gerade erst reingekommen, ich bin sicher, wir haben noch welche. Ich zeige Ihnen jetzt mal eine Umkleidekabine, wo Sie loslegen können.«
Sie nimmt die Kleider, die Sethie und Janey zusammengesucht haben, und führt die beiden durch das Stockwerk. »Das ist eine ganz tolle Hose«, sagt sie. »Total einzigartig.«
Sethie und Janey laufen hinter ihr her und lächeln
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