Stone Girl
Grund gibt, an die Tür zu klopfen und hereinzukommen.
Sie wartet, bis sie hört, wie sich die Schritte entfernen. Die Schritte meiner Mutter, denkt sie, sind seltsam laut für jemanden, der so kleine Füße hat. Sethie beschließt zu lernen, wie man leichtfüßig auftritt, sodass niemand sie hört, wenn sie einen Raum betritt. Sie wird so leise sein, dass die Leute sich fragen, wer oder was ein Luftkissen zwischen ihre Füße und den Boden gezaubert hat. Ihre Schritte werden so leichtfüßig sein, dass die Leute sie für dünner halten, als sie in Wirklichkeit ist.
Als Sethie die Schritte nicht mehr hören kann, legt sie sich wieder auf den Boden, streckt die Arme aus und neigt den Spiegel so, dass sie ihr Schlüsselbein sehen kann, das nicht so vorsteht wie es sollte. Und ihre Brüste erst, die an den Seiten ihres BHs herausquellen! Sie neigt den Spiegel noch einmal, um ihren Bauch und den Ansatz ihrer Hüften sehen zu können. All die weichen Stellen, die eigentlich glatt, straff und hart sein sollten. Mein Gesicht ist nicht hübsch genug, denkt Sethie, um das Fett an meinem Körper wettzumachen, und mein Körper nicht schön genug, um die Fehler in meinem Gesicht auszugleichen.
Einige Monate bevor Sethie dreizehn wurde, hat ihre Mutter ihre Bat-Mizwa organisiert. Eine schreckliche Tradition, wie Sethie jetzt findet, eine Zeit, in der man Familie und Freunden vorgeführt wird, obwohl man eigentlich vollkommen unbeholfen ist. Ein ganzes Jahr lang wird man in der Schule entweder eingeladen oder komplett ignoriert, und zwar genau dann, wenn alle unsicher sind, wen sie nun eigentlich mögen und wen nicht. Soweit Sethie sich erinnert, hat sie sowohl die Mädchen eingeladen, mit denen sie gerne befreundet gewesen wäre, als auch diejenigen, die wirklich ihre Freundinnen waren.
Eine schreckliche Tradition auch deswegen, weil sie genau dann abgehalten wird, wenn man sich mitten in einem Wachstumsschub befindet, sodass das Kleid, das vor Monaten gekauft und angepasst wurde, meistens nicht mehr passt, wenn der große Tag endlich da ist. Sie weiß noch, wie ihr Kleid in den Achselhöhlen gescheuert hat. Sie hatte das Gefühl, zu früh gewachsen zu sein. Wegen ihres letzten Wachstumsschubs war es außerdem kürzer als vorgesehen. Zum ersten Mal trug sie Schuhe mit hohen Absätzen und, genau wie ihre Mutter, Strumpfhosen mit einem leichten Schimmer. Während der Feier kam eines der Mädchen auf sie zu und sagte: »Es ist schon in Ordnung, dass dein Kleid so kurz ist, Sethie – du hast tolle Beine!« Natürlich war das ein Kompliment, doch in jener Nacht ging Sethie nach Hause und begutachtete sich und ganz besonders auch ihre Beine erstmals prüfend im Spiegel. In hohen Schuhen und mit der Strumpfhose sahen sie besser aus als nackt. Wenn man sie fragte, müsste sie zugeben, dass ihre Bat-Mizwa der Tag war, an dem ihr Körper zu dem wurde, was er jetzt war: ein Quell ständiger Faszination und Enttäuschung.
Sethie drückt sich mit dem Handballen seitlich in den Bauch. Da, genau da. Diese weiche Stelle sollte da nicht sein. Wie zur Bekräftigung quetscht Sethie sie zusammen. Ein nutzloses Stück Fleisch, denkt sie angeekelt, und zieht es noch weiter von ihrem Körper weg. Das sollte man einfach abschneiden können. Jetzt lässt sie den Spiegel fallen und drückt ihre Hände zu beiden Seiten auf den Rumpf, um ihr ganzes Fett zusammenzuquetschen. Ja, denkt sie, ich sollte es sofort rausschneiden.
Sie setzt sich auf und kneift sich in die Innenseite ihrer Schenkel. Sie kann deutlich sehen, wo die Muskelstränge enden und das Fett anfängt. Das wäre wie Fettabsaugen. Es ist ja nicht so, als würde sie dieses ganze Fett brauchen. Oberhalb ihres rechten Knies hat sich ein bisschen Schorf gebildet, dort, wo sie sich beim Rasieren geschnitten hat. Dort könnte ich anfangen, denkt sie. Ich könnte das Loch vergrößern und dann einfach hineinfahren und das Fett mit meinen Nägeln herausschaben.
Sie legt den Spiegel zur Seite und formt mit ihren Fingern eine Klammer um den Schorf. Es ist so einfach, dass sie kaum etwas tun muss. Der Schorf löst sich wie von alleine. Dann kratzt sie über die Stelle, wo vorher der Schorf war, und zieht das Knie noch näher zu sich heran. Gleichzeitig beugt sie sich nach vorne und versucht ganz bewusst wahrzunehmen, wo sich an ihrem Bauch Speckrollen bilden. Sie lehnt sich zurück, zieht den Bauch ein und beugt sich dann wieder nach vorne.
Blut schmeckt metallisch. Eigentlich hätte sie gerne
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