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Stone Girl

Stone Girl

Titel: Stone Girl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alyssa B. Sheinmel
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die Verlegenheit ihrer Freundin und verspricht, nicht mehr davon anzufangen. Nach ihrem Versprechen blickt Janey dankbar drein.
    »Englische Literatur ist nicht gerade meine Stärke«, beschwert sie sich. Mindestens einen Abend in der Woche verbringt Sethie nun damit, Janey davon zu überzeugen, dass es durchaus ihre Stärke sein könnte, wenn sie nur wollte. Nach ein paar Wochen kommt Janey mit einer Einser-Arbeit nach Hause und zeigt sie Sethie ungefähr so, wie die meisten Kinder das bei ihren Eltern tun würden.
    »Wie hast du das nur gemacht?«, fragt Janey lachend und hält ihr das Blatt mit der hellroten Eins vor die Nase.
    »Ich habe die Arbeit nicht geschrieben«, erwidert Sethie. »Das warst du.«
    »Ja, aber ohne dich hätte ich es nie geschafft. Du bist die Art Mädchen, die immer Einsen bekommt.«
    »Nicht immer. Die Zwei in Kunst letztes Jahr hat mir meinen ganzen Schnitt versaut.«
    Janey schüttelt den Kopf und legt den Arm um Sethie. »Dank dir habe ich jetzt das Gefühl, auch in Englisch Einsen schreiben zu können.«
    »Na, ganz offensichtlich kannst du das«, sagt Sethie lachend.
    »Ja, aber das hätte ich vorher nie gedacht.«
    Im November schlägt Janey vor, Sethie solle an Thanksgiving zu ihr kommen.
    »Schließlich hast du schon eine Kostprobe von unserem Thanksgiving-Essen bekommen«, sagt sie. »Also weißt du, dass es schmeckt.«
    Sethie sitzt bei Janey im Wohnzimmer und studiert eine Speisekarte vom Chinesen. Janeys Eltern sind wieder einmal oder besser gesagt immer noch verreist, wenn Janey auch meinte, letzte Woche seien sie mal für zwei Tage zu Hause gewesen. Was hat wohl mehr Kalorien, denkt Sethie, Wan-Tan-Suppe oder eine Frühlingsrolle?
    »Na, eine Frühlingsrolle natürlich«, erwidert Janey. Sethie blickt auf. Sie hat gar nicht gemerkt, dass sie ihren Gedanken laut ausgesprochen hat. Janey fährt fort: »Am besten bestellen wir alle Hauptgerichte mit separater Sauce. Und braunen Reis, nicht weißen. Der ist besser.«
    Sethie nickt und sieht Janey dabei zu, wie sie die Arme über den Kopf streckt und nach dem Telefon neben der Couch greift. Zwischen dem Saum ihres Tanktops und dem Bund ihrer Shorts kommt ein Stück ihres weißen Bauchs zum Vorschein. Sethie versucht zu entscheiden, ob Janey die Art Körper hat, die man als grazil und geschmeidig bezeichnen könnte. Beide Wörter hat Sethie mit einem wegwischbaren Whiteboard-Marker auf den bodenlangen Spiegel in ihrem Zimmer geschrieben. Es sind ihre neuen Lieblingswörter, Wörter mit einem beinahe fremden Klang, Wörter, deren Bedeutung sich ihr schon aufgrund der Form erschließt, die sie in ihrem Mund annehmen. Der Spiegel hängt an der Rückseite ihrer Tür, also muss sie sich keine Sorgen machen, ihre Mutter könne ihn zu Gesicht bekommen. Rebecca würde sich nie bei geschlossener Tür in Sethies Zimmer aufhalten, normalerweise steht sie nur im Türrahmen und kommt gar nicht richtig herein. Sethie hat vorher auch Iss nicht und Knochen sind schön auf den Spiegel geschrieben, doch vor ein paar Wochen hat sie die Schrift zugunsten von grazil und geschmeidig gelöscht.
    Als Janey ihren Körper windet, um nach dem Telefon zu greifen, ist Sethie frustriert, weil sie nicht wusste, dass man chinesisches Essen auch mit separater Sauce bestellen kann, und sie auch noch nie braunen Reis gegessen hat. Ja, sie hat noch nicht mal gewusst, dass eine Frühlingsrolle schlechter für sie ist als Suppe, aber wenn sie so darüber nachdenkt, ist die Sache natürlich sonnenklar. Immerhin ist das fritierter Teig. Andererseits klingt Suppe nach so viel mehr Essen als eine einzelne Frühlingsrolle. Ärgerlich klappt Sethie die Speisekarte zu, als hätten die chinesischen Restaurant-Leute versucht, sie reinzulegen.
    »Woher weißt du bloß, was der Unterschied zwischen Wan-Tan-Suppe und Frühlingsrolle ist?«, fragt Sethie seufzend. »Du zählst doch nicht mal Kalorien.«
    Janey zuckt die Achseln. »So eine Phase macht doch jedes Mädchen mal durch, oder?« Sie sagt es, als sei es nichts Besonderes, als hätte sie es schon hinter sich und als sei jetzt eben Sethie dran. Sethie mag es nicht, dass Janey die Hauptsorge ihres Lebens auf einen einzigen Satz reduziert hat. Ein Mädchen wie Janey, denkt Sethie, kann sich den Luxus erlauben, diesen Zustand als »Phase« zu bezeichnen, ein Mädchen wie Janey ist von Natur aus dünn, ein Mädchen wie Janey kann essen, was auch immer sie will, ohne dick zu werden. Doch Sethie weiß, in dem Moment, in dem sie

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