Stone Girl
wenn sie nicht angefangen hätte, an ihm herumzupfuschen. Vielleicht wäre sie dann jetzt wie Rebecca.
Sogar jetzt, denkt Sethie, wäre Rebecca im Badeanzug ein schönerer Anblick als ich.
»Ich denke, eine Portion macht keinen so großen Unterschied«, sagt Sethie. Sie weiß noch, wie sie Thanksgiving einmal ganz abgesagt haben, weil es draußen schneite. Sethie muss damals elf gewesen sein. Keiner von ihnen wollte ins Schneegestöber hinaus, und damals hat Sethies Mutter sich keinen Deut um Marcias bestelltes Essen geschert. Stattdessen haben sie sich etwas vom Chinesen kommen lassen, auf der Couch gegessen und sich eine Decke geteilt. Sethie erinnert sich, wie schrecklich ungeschickt sich ihre Mutter mit den Stäbchen angestellt und einen Teil des Essens auf die Couch fallen gelassen hat. Dann hat sie gelacht und gesagt: »Sollte nicht eigentlich das Kind der Kleckerer sein?«
»Für Marcia ist es ein Unterschied«, sagt Rebecca, und Sethie denkt, dass sogar ihre Mutter merken muss, wie lahm sich das anhört, und zwar erst recht, als sie hinzufügt: »Wenn es dir so wichtig ist, warum lädst du Janey dann nicht einfach zu Marcia ein?« Das widerspricht ihrem vorigen Argument von Marcias bestelltem Essen.
Sethie versteht nicht, warum ihre Mutter so hartnäckig darauf besteht, den Tag mit ihr zu verbringen, doch schließlich zuckt sie die Achseln und geht zurück in ihr Zimmer. Sie hat keine Lust, Janey Bescheid zu sagen. Es ist doch wirklich total peinlich und kindisch, wenn die eigene Mutter einen von der Freundin fernhält. Janeys Mutter würde das nie tun.
11
Sethie liegt in Unterwäsche auf dem Boden ihres Zimmers und versucht herauszufinden, ob sie hübsch ist. Sie hält sich einen Vergrößerungsspiegel vors Gesicht – so einen, den ihre Mutter zum Schminken im Badezimmer hat –, beugt und streckt die Arme und bewegt sie zur Seite, um ihr Gesicht aus allen Winkeln und aus jeder Entfernung betrachten zu können. Ihre Poren sind riesig, aber dafür hat sie volle Lippen. Ihre Zähne sind schief, doch ihre Wimpern schön lang. Wenn sie den Spiegel so nah hält wie jetzt, kann sie kaum noch etwas von ihrem dunklen Haar sehen, das ihr Gesicht einrahmt. Ihre Augen sind blassgrau. Sie ist sich nicht sicher, ob sie sie schön findet, doch irgendwann kommt sie zu dem Schluss, dass sie zumindest auffallend sind, ja vielleicht hat sie sogar Augen, über die man spricht, wenn sie den Raum verlässt.
Sethies Zimmer ist quadratisch. Ihr Bett steht in der Ecke unter dem Fenster und Sethie liegt direkt daneben auf dem Boden. Sie muss die Arme nicht mal ganz ausstrecken, um auf den Nachttisch über sich greifen zu können. Gleichzeitig kann sie die Frisierkommode auf der anderen Seite des Zimmers mit dem Fuß berühren.
Sie hasst Unterbrechungen. Das Telefon soll nicht klingeln, die Hausaufgaben müssen nicht erledigt werden. Sie ist vollauf damit beschäftigt, auf dem Rücken zu liegen, sich dort, wo ihre Schultern den Boden berühren, über das Gefühl des Schmerzes zu freuen (denn das bedeutet, sie ist knochig) und sich einen Spiegel vors Gesicht zu halten. Sie hat Ringe unter den Augen. Sind sie hässlich oder eher mysteriös? Der Heroin-Chic ist out, also beschließt Sethie, sie als hässlich einzustufen. Sie drückt auf ihrem Nasenhubbel herum, ein Souvenir von einem Unfall in ihrer Kindheit. Er gibt ihrem Profil einen interessanten Touch, also zählt sie ihn zu den schönen Dingen. Ich sollte eine Liste machen, denkt sie. »Schön« auf der einen Seite, »hässlich« auf der anderen. Und wenn ich dann alles zusammenzähle, gewinnt die Spalte mit den meisten Punkten. Allerdings, so denkt sie weiter, sollten einige Eigenschaften mehr als nur einen Punkt wert sein. Fett beispielsweise sollte mindestens zehn Punkte zählen. Vielleicht auch zwanzig. Es wäre gut, wenn es eine Art Skala gäbe, die jeder Eigenschaft einen Wert zuordnet, um Schönheit so objektiv zu analysieren wie ein mathematisches Problem.
Sie hört die Schritte ihrer Mutter auf dem Parkettfußboden vor ihrem Zimmer. Es klingt, als würden sie auf die Tür zukommen. Als die Schritte plötzlich innehalten, lauscht Sethie und stellt sich vor, wie ihre Mutter ebenfalls lauscht. Sethie steht auf und beginnt, ein paarmal zwischen dem Bett und dem Schreibtisch hin und her zu laufen. Sie versucht, möglichst kräftig aufzutreten, ihre Schritte schwer klingen zu lassen, damit ihre Mutter merkt, dass sie putzmunter in ihrem Zimmer zugange ist und es keinen
Weitere Kostenlose Bücher