Stone Girl
ganz sicher ihren Stoffwechsel und die Verdauung angeregt haben. Sie findet es lustig, dass sie ihren Stoffwechsel beschleunigt, wo er doch normalerweise so langsam ist, dass er sie dazu zwingt, sich zu erbrechen.
Im Taxi geht sie in Gedanken die Zahlen durch. Einen Bagel mit Senf zu Mittag. Edamame-Bohnen. Misosuppe. Vier Sushis. Sojasauce. Sie schätzt die Kalorien ab: 500 plus 100 plus 200 plus 400. Nur 1200. Sie hat sich noch nie wegen 1200 Kalorien übergeben. Sie hat sich überhaupt noch nie übergeben, wenn sie genau nach Plan gegessen hat. Aber sie weiß, heute Nacht will sie es tun. Mit Wucht knallt sie die Badezimmertür hinter sich zu und krümmt sich über die Toilette. Sie übergibt sich so lange, bis sie Bauchschmerzen bekommt und ihr einzelne Fetzen von rohem Fisch unter den Fingernägeln kleben. Sie übergibt sich so lange, bis sie nicht mehr weiß, ob sie weint, weil Shaw mit anderen Mädchen schläft oder weil Janey Bescheid wusste und ihr nichts gesagt hat oder weil sie sich gerade den Hals wundgekratzt hat. Vielleicht weint sie auch, weil sie es hasst, sich zu übergeben. Bulimie, denkt Sethie verbittert, ist nur für Magersüchtige, die sich nicht genug anstrengen. Und ich bin nicht mal wirklich bulimisch. Als sie ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammennimmt, entdeckt sie ein paar Essenssprenkel, die sich gegen ihre Kopfhaut abheben. Aber sie kann ihre Haare jetzt nicht waschen, denn das hat sie heute schon einmal getan, und sie weiß, dass man sein Haar nicht zweimal an einem Tag schamponieren soll. Janey wäscht sich noch nicht mal täglich die Haare, weil ihr Friseur gesagt hat, das sei besser für ihre Kopfhaut. Bestimmt ist es auch für ihr Haar besser, wenn sie es schmutzig lässt und einfach so ins Bett geht, beschließt Sethie. Sie kann ihr Haar und das Kopfkissen genauso gut morgen früh waschen.
Rebecca ist nicht zu Hause. Sethie streift sich ein Tanktop über, damit sie all das Gewicht vor Augen hat, das sie noch verlieren muss. Nie würde sie etwas so Enges tragen, wenn auch nur die entfernte Möglichkeit besteht, dass Rebecca sie darin sieht. Doch wenn sie allein ist, wird jede spiegelnde Oberfläche zur Erinnerung an ihr überschüssiges Fett: der Spiegel ihres Badezimmers, die Fenster in ihrem Zimmer, ja sogar das glänzende Parkett. Der Stoff ihres Shirts schmiegt sich an ihre Haut, ganz anders als die weiten Walle-Oberteile, die sie sonst bevorzugt. So wird sie ihr Fett die ganze Zeit über spüren.
Als das Telefon klingelt, geht Sethie nicht dran. Das kann nur Janey sein, die sich erkundigen will, ob alles in Ordnung ist, und sie möchte jetzt nicht mit Janey reden. Oder vielleicht ist es auch Shaw, der nicht weiß, was Sethie gerade erfahren hat, und der sie auffordert, vorbeizukommen, was, wie Sethie jetzt weiß, nichts weiter ist als eine Verabredung zum Gelegenheitssex. Sethie lässt ihre Zimmertür zu und schiebt das Telefon unter ihr Kopfkissen. So kann ihre Mutter das Klingeln nicht hören, wenn sie nach Hause kommt, und sich dementsprechend auch nicht wundern, warum Sethie nicht rangeht.
Ihr ist so heiß, dass sie nicht schlafen kann. Jeder Zentimeter ihres Körpers ist klebrig, ihre Finger riechen nach Kotze und ihr Haaransatz ist vollkommen nassgeschwitzt. Wenn sie auf der Seite liegt, spürt sie die riesige Berührungsfläche zwischen ihren Oberschenkeln, und wenn sie sich bewegt, fühlt es sich an, als würden feuchte Wurstscheiben voneinander gelöst.
Sie öffnet das Fenster. Draußen ist Dezember, es sollte eigentlich kühl sein. Mit ein paar Tritten befördert sie ihre Überdecke ans Fußende des Bettes, dann steht sie auf und legt sie zusammen, sodass sie am Ende ordentlich auf dem Boden liegt. Sie wickelt sich in das Laken, damit sie es zwischen all ihre klebrigen Körperteile schieben kann. Zwischen ihre Knie und die Knöchel, zwischen ihre Arme und den Rumpf. Ihre warmen Tränen bewirken nichts weiter, als dass ihr noch heißer wird. Um endlich einschlafen zu können, nimmt sie eine Valium. Janey hat ihr letzte Woche eine Handvoll davon mitgegeben, die ursprünglich ihrer Mutter verschrieben worden sind. Sie haben die Pillen nicht mal heimlich aus dem kleinen Medizinschränkchen nehmen müssen, denn Janeys Eltern sind ja sowieso nie da.
Da ihr so warm ist, kann Sethie nicht so tun, als wäre das Kissen, auf dem ihr Kopf liegt, Shaws Brust. Wenn Shaw hier wäre, dann wäre ihr auf keinen Fall so warm.
Am nächsten Morgen ist Sethie froh, Schule zu
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