Stone Girl
jünger ist als man selbst und nur ein paar Blocks entfernt wohnt. Und ganz offensichtlich kann ein Junge aus Virginia nicht nur sagen, dass er dich liebt, sondern auch den Prozess des Sich-Verliebens in Worte fassen.
»Ein netter Junge aus dem Süden«, sagt Sethie und Janey lächelt wieder.
»Ich weiß. Manchmal, wenn er mit seinen Eltern telefoniert, kommt sein Südstaaten-Akzent ein wenig durch.«
»Also schläfst du nicht mit Shaw?«
»Nein!«
Sethie schaut an die Decke. Ihr kommen die Tränen, vor ihren Augen verschwimmt alles. Sie kann sich nicht vorstellen, was Janey und Doug sonst für ein Geheimnis haben könnten. Doch sie weint nicht, weil sie traurig ist, sondern weil sie Shaw immer noch vermisst. Sogar jetzt wünscht sie sich noch, er wäre da und sie könnte sich neben ihn kuscheln.
»Sethie, er hat mir gesagt, ihr zwei wärt nur Freunde, die dann und wann miteinander ins Bett gehen. Letztes Jahr hat er das gesagt, oder wann immer das Ganze mit euch angefangen hat. Und bis September kannte ich dich ja noch nicht und hatte keine Ahnung, wie du bist.«
»Was macht das für einen Unterschied?«
»Weil ich es dir in der Sekunde hätte sagen müssen, in der ich dich getroffen habe und deine Freundin sein wollte. Und ich hätte es dir erst recht sagen sollen, als du Shaw letzte Woche als deinen Freund bezeichnet hast. Aber ich dachte, ich würde Shaw etwas schulden, weil er zuerst mit mir befreundet war.«
»Ihm etwas schulden?«
»Na ja, meine Loyalität halt. Ich sollte ihm quasi die Möglichkeit geben, es dir selbst zu sagen, bevor ich es tue.«
»Die Möglichkeit, es mir selbst zu sagen?«
Janey schaut auf Dougs Bettdecke. »Er schläft mit anderen Mädchen. Mit denen aus unserer Klasse.« Sethie nickt. Sie versucht sich vorzustellen, wann er diese anderen Mädchen trifft. Vielleicht quetscht er seine Stelldicheins zwischen seine Kurse. Vielleicht schleichen er und die Mädchen sich heimlich in den Schulkeller, in die Dunkelkammer, ganz nach unten im Treppenhaus. Vielleicht treffen sie sich auch morgens vor Schulbeginn und noch vor dem Frühstück zu heimlichen Rendezvous. Das kann nicht angefangen haben, bevor sie Sex hatten, denkt sie. Sie beide waren das erste Mal füreinander.
»Und jetzt gibt es da ein Mädchen auf der Columbia«, sagt Janey.
Sethie erinnert sich an das Mädchen, das am Samstagabend neben Shaw auf dem Sofa saß. Sie erinnert sich, wie Shaw sie nicht in seiner Nähe haben zu wollen schien, wie er ohne sie weggegangen war.
»Das war’s, worüber wir uns gestritten haben, als du uns heute Nachmittag über den Weg gelaufen bist. Ich wollte, dass er es dir selbst sagt, aber er schien das nicht für nötig zu halten.«
»Weil er uns nur für Fickfreunde hält«, fügt Sethie hinzu.
»Ich hasse dieses Wort«, sagt Janey.
Sethie blinzelt. Sie hat es auch nie gemocht, aber sie hat es auch nie auf sich bezogen.
»Freunde mit gewissen Vorzügen?« bietet sie alternativ an und Janey verdreht die Augen.
»Irgendwie so halt. Er hat es wahrscheinlich nicht beim Namen genannt. Also, insofern habe ich mich vielleicht wirklich schuldig gefühlt. Vielleicht habe ich einfach gehofft, wenn ich dich mit Ben verkuppele, würde die ganze Sache mit Shaw bedeutungslos werden.«
»Ganz offensichtlich ist sie bedeutungslos.«
»Dir hat es etwas bedeutet.«
Sethie blickt an die Decke. »Ich glaube, ich möchte nach Hause.«
»Okay«, erwidert Janey und schwingt ihre Beine aus Dougs Bett. »Ich komme mit dir.«
Sethie schüttelt den Kopf. »Nein, nein, lass nur. Es ist ja nicht ein Uhr früh oder so. Ich kann alleine gehen.« Sie dreht sich um und rennt die Treppen hinunter, immer zwei Stufen auf einmal, wie ein kleines Kind, das es am Weihnachtsmorgen nicht erwarten kann, nach unten zu kommen, um zu sehen, was ihm der Weihnachtsmann gebracht hat. Auf dem Bürgersteig umklammert ihre rechte Hand ihr linkes Handgelenk, während sie sich die Finger der linken Hand auf den Mund presst. Sie läuft so schnell sie kann. Als sie nach einem Taxi winkt, lässt sie ihr Handgelenk los, und als sie die Tür hinter sich zuschlägt, denkt Sethie nur an zwei Dinge: Oh Gott, ich vermisse Shaw, und: Ich hoffe, dieses Taxi bringt mich rechtzeitig nach Hause.
15
Rechtzeitig zu Hause zu sein, heißt, rechtzeitig das Abendessen zu erbrechen. Es ist mehr als eine Stunde her, dass sie fertig gegessen hat, und seitdem ist sie ein paar Treppen runtergesprungen und zu einem Taxi gerannt. Alles Bewegungen, die
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