Stoner: Roman (German Edition)
sie nur deshalb verändern konnten, weil sie darin fußten. Im Seminar meldete er sich selten zu Wort, und seine schriftlichen Arbeiten stellten ihn fast nie zufrieden. Wie seine Vorträge vor den jungen Studenten verrieten sie nichts von dem, wovon er zutiefst überzeugt war.
Er lernte einige Mitstudenten näher kennen, die am selben Fachbereich unterrichteten. Mit zweien freundete er sich besonders an, mit David Masters und Gordon Finch.
Masters war ein schlanker, dunkelhaariger junger Mann mit scharfer Zunge und sanften Augen. Wie Stoner hatte er gerade mit der Promotion begonnen, war allerdings ein gutes Jahr jünger. Am Fachbereich und bei den Studenten besaß er den Ruf, arrogant und impertinent zu sein, weshalb man allgemein annahm, dass es ihm letztlich sicher nicht leichtfallen würde, den Doktortitel zu erringen. Stoner hielt ihn füreinen brillanten Kopf und ordnete sich ihm neidlos und ohne jeden Widerwillen unter.
Gordon Finch war groß und blond und begann bereits im Alter von dreiundzwanzig Jahren dick zu werden. Er hatte seinen Abschluss an einer Handelsschule in St. Louis gemacht und es an der Universität mit mehreren weiterführenden Studiengängen versucht, so in Wirtschaftswissenschaften, Geschichte und Maschinenbau. Auf eine Promotion am Fachbereich Literatur hatte er sich wohl nur deshalb eingelassen, weil es ihm in letzter Sekunde gelungen war, eine bescheidene Unterrichtsstelle zu ergattern. Rasch erwies er sich als der Student am Fachbereich, der wohl das geringste Interesse für sein Studiengebiet aufbrachte, doch war er bei den Erstsemestern beliebt; außerdem verstand er sich gut mit den älteren Fakultätsmitgliedern und den Verwaltungsangestellten.
Diese drei – Stoner, Masters und Finch – machten es sich zur Gewohnheit, freitagnachmittags in einer kleinen Bar in der Stadt ein paar große Gläser Bier zu trinken und bis zu später Stunde miteinander zu reden. Obwohl Stoner kein anderes gesellschaftliches Vergnügen als diese Abende kannte, fragte er sich oft verwundert, was sie eigentlich verband. Sie kamen zwar gut miteinander aus, waren aber beileibe keine engen Freunde, zogen einander nur selten ins Vertrauen und sahen sich kaum außerhalb ihrer wöchentlichen Treffen.
Keiner von ihnen stellte ihre Beziehung je in Frage. Stoner wusste, Gordon Finch wäre derlei nie in den Sinn gekommen, doch nahm er an, dass dies nicht für David Masters galt. Einmal saßen sie spätabends an einem der hinteren Tische der schummrigen Bar, und Stoner und Masters redeten über ihre Seminare und ihr Studium im verlegen scherzhaftenTon der ganz Ernsthaften. Wie eine Kristallkugel hielt Masters ein hartgekochtes Ei vom kostenlosen Mittagessen in die Höhe und fragte: »Habt ihr, Gentlemen, je über die wahre Natur der Universität nachgedacht? Mr Stoner? Mr Finch?«
Lächelnd schüttelten sie die Köpfe.
»Natürlich habt ihr das nicht. Ich stelle mir vor, dass sie für Stoner einem großen Vorratsraum gleicht, einer Bibliothek vielleicht oder einem Bordell, etwas, wohin Männer aus freien Stücken gehen, um zu suchen, was sie vervollständigt, ein Ort, an dem alle wie kleine Bienen in einem Bienenkorb zusammenarbeiten. Die Ehrlichen, die Guten, die Schönen. Sie warten gleich um die Ecke oder im nächsten Flur, sind im nächsten Folianten, in dem, den du noch nicht gelesen hast, auf jeden Fall aber im nächsten Bücherstapel, mit dem du noch nicht angefangen hast, doch eines Tages anfangen wirst. Und wenn es dann so weit ist – wenn es dann so weit ist …« Noch einmal blickte er auf das Ei, biss ein großes Stück davon ab und wandte sich mit kauenden Kiefern und funkelnden dunklen Augen zu Stoner um.
Stoner lächelte unbehaglich, und Finch lachte laut und schlug auf den Tisch. »Er hat dich durchschaut, Bill. Er hat dich wirklich durchschaut.«
Masters kaute noch einen Moment, schluckte und richtete den Blick dann auf Finch. »Und du, Finch. Wie sieht deine Vorstellung aus?« Er hob die Hand. »Du protestierst und sagst, du hättest noch nie drüber nachgedacht. Aber das hast du. Hinter dem herzlichen, gutmütigen Äußeren arbeitet ein schlichter Verstand. Für dich ist diese Institution ein Werkzeug des Guten – gut für die Welt im Ganzen, natürlich, und zufälligerweise auch gut für dich. Du siehst darin eineArt geistiges Tonikum, das du jeden Herbst verabreichst, um die kleinen Racker über einen weiteren Winter zu bringen, wobei du der freundliche alte Doktor bist, der gütig
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