Stoner: Roman (German Edition)
jenes Sommers, kurz vor Beginn des Herbstsemesters, besuchte er seine Eltern. Eigentlich wollte er bei der Sommerernte helfen, erfuhr dann aber, dass seinVater einen schwarzen Landarbeiter eingestellt hatte, der mit stillem, entschlossenem Eifer zupackte und an einem Tag fast so viel schaffte wie William und sein Vater früher gemeinsam. Seine Eltern freuten sich, ihn zu sehen, und schienen ihm seine Entscheidung nicht übelzunehmen. Allerdings merkte er bald, dass er ihnen nichts zu sagen hatte und dass sie einander bereits fremd wurden, ein Verlust, der seine Liebe zu ihnen noch vermehrte. Eine Woche früher als geplant kehrte er nach Columbia zurück.
Er begann aufzubegehren gegen die Zeit, die er für die Farmarbeit bei den Footes benötigte. Da er so spät mit dem Studium angefangen hatte, spürte er nun umso deutlicher dessen Dringlichkeit. Manchmal, wenn er in die Bücher vertieft war, überkam ihn eine Ahnung dessen, was er alles nicht wusste, was er noch nicht gelesen hatte, und die Ruhe, auf die er hinarbeitete, wurde von der Erkenntnis erschüttert, wie wenig Zeit ihm doch im Leben blieb, um so viel lesen, um all das lernen zu können, was er wissen musste.
Im Frühjahr 1915 beendete er den Magisterstudiengang und verbrachte den Sommer damit, seine Abschlussarbeit zu schreiben, eine Sprachstudie über eine der Erzählungen in den Canterbury Tales von Geoffrey Chaucer. Noch vor dem Ende des Sommers sagten ihm die Footes, dass sie ihn auf ihrer Farm nicht länger gebrauchen konnten.
Damit hatte er gerechnet, und in gewisser Weise begrüßte er seine Entlassung, dennoch überkam ihn einen Moment lang ein Anflug von Panik. Ihm war, als würde die letzte Verbindung zu seinem alten Leben gekappt. Die verbleibenden Wochen dieses Sommers verbrachte er auf der Farm seines Vaters, um letzte Korrekturen an seiner Arbeit vorzunehmen. Archer Sloane hatte inzwischen dafür gesorgt, dass er zweiEinführungskurse Englisch für Erstsemester geben konnte, während er selbst damit begann, auf den Doktor hinzuarbeiten. Fürs Unterrichten erhielt er vierhundert Dollar im Jahr. Also räumte Stoner seine Habseligkeiten aus Footes’ winziger Dachkammer, in der er fünf Jahre lang gehaust hatte, um ein noch kleineres Zimmer in der Nähe der Universität zu beziehen.
Obwohl er einer bunt gemischten Gruppe von Erstsemestern nur Grundkenntnisse in Grammatik und Komposition beibringen sollte, sah er seiner Aufgabe voller Begeisterung und in der festen Überzeugung entgegen, etwas Wichtiges zu leisten. Er begann mit den Kursvorbereitungen in der letzten Woche vor dem Herbstsemester und entdeckte Möglichkeiten, wie man sie wahrnimmt, wenn man sich ernsthaft mit den Inhalten und Zielen eines Unterfangens beschäftigt; er besaß ein Gefühl für die Logik der Grammatik und meinte sehen zu können, wie sie alles durchdrang, die Sprache prägte, die Gedanken strukturierte. In den simplen kompositorischen Übungen, die er sich für die Studenten ausdachte, sah er die Möglichkeiten der Prosa und ihre Schönheiten aufleuchten, und er freute sich darauf, die Studenten mit einem Gefühl für das, was er selbst wahrnahm, begeistern zu können.
Doch als er sich nach anfänglichen Routineaufgaben wie dem Erstellen von Anwesenheitslisten und Studienplänen den eigentlichen Themen und seinen Studenten zuwandte, fühlte er in den ersten Sitzungen, dass jenes Staunen in ihm verborgen blieb. Wenn er zu den Studenten sprach, war ihm manchmal, als stünde er neben sich und sähe einen Fremden zu einer widerwillig versammelten Schar reden; er hörte die eigene Stimme den vorbereiteten Stoff tonlos wiedergeben,und seinem Vortrag war nichts von der eigenen Begeisterung anzumerken.
Erleichterung und Erfüllung aber fand er in den Seminaren, in denen er selbst Student war. Sie weckten in ihm jenes Entdeckergefühl aufs Neue, das er zum ersten Mal gespürt hatte, als Archer Sloane sich im Unterricht an ihn gewandt hatte und er in einem einzigen Augenblick zu einem anderen Menschen geworden war. Während sein Verstand sich mit dem Thema befasste und die Macht der von ihm studierten Literatur zu begreifen, ihr Wesen zu verstehen suchte, war er sich der konstanten Veränderung seiner selbst bewusst. In diesem Wissen bewegte er sich aus sich hinaus in die Welt, der er angehörte, weshalb er verstand, dass das von ihm gelesene Gedicht von Milton, der Essay von Bacon, das Theaterstück von Ben Jonson jene Welt veränderten, die zugleich ihr Thema war, und
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