Storm - Aus dem Leben eines Auftragskillers (German Edition)
visierte ihre glatte Stirn an. Ich hatte mir vorgenommen, jeden in diesem Haus töten. Das dachte ich jedenfalls.
» Julie? Scheiße, wo bist du?«, kreischte Hanna wiederholt.
Julie schaute mir tief in die Augen. Sie erkannte mein Gesicht hinter meiner Maske nicht. Für sie war ich der Schwarze Mann, der seit ihrer Kindheit in ihrem Kleiderschrank hauste.
Ich bemühte mich um einen strafenden Blick, schaffte es aber nicht. Meine Augen weichten auf. Ich las in ihr wie in einem Buch. Ich registrierte Trauer, Schmerz und Unschuld ; Liebe und Angst.
Dieses Mädchen hatte sich in ihrem Leben nichts zu Schulden kommen lassen. Ein unbeflecktes Wesen. Sie war anständiger als die Jungfrau Maria. Irgendwann hatte sie schon mal den Tod gesehen, aber das war lange her. Ein Schicksalsschlag, der ihr immer noch zu schaffen machte. Woher kannte sie die Schwärze? Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Ihre Mutter. Sie war nicht mit einem anderen Kerl durchgebrannt. Sie war einfach vor ihrer Zeit gestorben. Julie muss noch sehr jung gewesen sein.
Ich rang mit meinem Gewissen. Konnte ich wirklich ein so reines Wesen auslöschen, nur um einen Auftrag auszuführen? Zu welchem Ungeheuer war ich verkommen? Und hatte Hanna überhaupt den Tod verdient? Oder etwa das kleine Mädchen, das meinetwegen von einem Lkw zerfleischt worden war? Meine Welt geriet ins Wanken. Meine Hand zitterte. Die Waffe zuckte über Julies Gesicht. Ein junges Mädchen, welches die Liebe zu einem Mann noch nicht kennenlernen durfte, welches gerade erst anfing, zu leben.
Meine Augen werden feucht . Der Rauch zeigte Wirkung. Ich hustete. Die Zeit stand still.
Julie rannte nicht weg. Sie war wie versteinert.
Ich konnte keine Entscheidung treffen. Leben oder Tod? Himmel oder Hölle? Welchen Weg wollte ich einschlagen? Ich wusste in diesem Moment, dass Gott mich in der Hölle schmoren lassen würde, wenn ich dieses Mädchen erschießen sollte. Ich durfte dieses unschuldige Leben nicht nehmen. Das war meine letzte Chance, um meine Seele zu retten.
Mein Verstand schrie ein lautes ‚ Nein‘, rüttelte mich wach. Es war genug. Ich verbannte diesen religiösen Unsinn aus meinem Kopf. Falls es so etwas wie eine Seele gab, gehörte meine sowieso dem Teufel. Eine Flasche Whisky würde Julie Cramme aus meinem Gedächtnis löschen. Noch eine Flasche und ich würde auch Hanna und ihren fetten Vater vergessen haben. Ich erhob meine Waffe.
» Julie? Was machst du da? Renn weg!« Peter Cramme war rechts neben mir aus dem Nebel erschienen. Er beobachtete mein Blickduell mit seiner jüngsten Tochter mit Schrecken. »Lauf, Süße!« Anschließend humpelte er selbst los.
Für einen Mann mit Gehbehinderung war er erstaunlich schnell unterwegs. Er preschte auf mich zu und überbrückte die fehlenden Meter zu mir mit geschickten Zwischenschritten. Die Überraschung verlangsamte meine Bewegungen. Ich wollte noch meinen Arm herumreißen und auf ihn schießen, aber da hatte er mich schon zur Seite gestoßen. Er fegte mich mit seinem beachtlichen Körpergewicht einfach von den Füßen.
Ich fiel rücklings auf den Boden und schlug mir dabei den Kopf an etwas Hartem an. Der Couchtisch , dachte ich mir. Ich sah nur noch das Grau des künstlichen Nebels.
» Kommt, wir müssen weg! Raus hier und ab zum Auto!«, kommandierte Peter Cramme mit Hysterie in der Stimme.
» Was ist mit dem Killer?«, hustete Hanna.
» Keine Ahnung! Ich habe ihn von den Beinen geholt. Der liegt irgendwo an der Anbauwand.«
» Wir müssen ihn töten, sonst hört der Albtraum nie auf.«
» Nein«, geiferte Hannas Vater energisch. »Er hat noch seine Waffe. Riskier es ja nicht! Das ist er nicht wert.«
» Scheiße!«, jaulte mein Zielobjekt enttäuscht.
» Wir müssen weg. Bitte, schnell! Julie, nimm meine Hand!«
In dem Stimmengewirr kam ich wieder zu mir. Ich stemmte mich in die Höhe und hörte schnelle Schritte. Ich schickte im Delirium zwei Kugeln in die Nebelwand. Der Versuch war vergebens. Die Crammes hatten das Haus bereits verlassen. Ich alarmierte mit dem Lärm nur weitere Augenzeugen. Meine Arme ruderten durch den Nebel. Ich irrte blind umher. Der Grundriss des Wohnzimmers war mir natürlich nicht so vertraut wie den Bewohnern des Hauses. Ich wollte nicht noch eine Beule auf meinem Kopf züchten. Der Rauch verzog sich nur ganz langsam durch die geöffneten Türen. Ich vernahm einen startenden Motor. Meine Nase witterte frische Luft. Ich schwankte nach vorne und erblickte die Freiheit.
Eine
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