Storm - Aus dem Leben eines Auftragskillers (German Edition)
Idealen zweifeln. Sie waren es wert, für sie die ordentliche Hausfrau zu mimen. Sie hatten ein Leben in einem intakten Elternhaus verdient.
Die Große , Hanna, hatte nicht mehr viele Jahre bis zu ihrem Abitur und traf sich schon heimlich mit Jungs. Sie kam manchmal später als verabredet von ihren Freundinnen zurück und rechtfertigte sich für ihre Unpünktlichkeit meistens mit fadenscheinigen Ausreden. Eine Mutter sah es ihrem Kind an der Nasenspitze an, wenn es log. Diese Gabe führte sie nicht nur auf ihre ausgezeichnete Ausbildung in menschlicher Psychologie zurück. Mütter haben ein Gespür für Lügen, egal, ob man die Agentin Pia Waldenburg war oder die beliebige Hausfrau ‚XY‘.
Pia ließ Hanna dennoch mit ihren erfundenen Geschichten passieren. Obwohl ihre Tochter schwindelte, dass sich die Balken bogen, wusste sie, dass sie sich auf ihren scharfen Verstand verlassen konnte. Hanna brach vielleicht kleinere Regeln, aber sie würde nie einen wirklich großen Fehler begehen, wie beispielsweise eine Teenie-Schwangerschaft. Ihre Tochter verdrehte den Jungs den Kopf, aber sicherlich spielten sich die sexuellen Handlungen noch über der Gürtellinie ab. Mädchen verändern sich, wenn sie das erste Mal mit einem Jungen geschlafen haben. Sie wirken schlagartig älter und erwachsener. In Hannas Augen erkannte sie noch den Schalk eines Kindes, wie vor zehn Jahren. Die Große war definitiv noch Jungfrau.
Ebenso sicher war sie sich in diesem Punkt bei ihrem kleinen Engel, Julie , dem Nesthäkchen der Familie. Selbstverständlich war das bei ihr auch etwas anderes. Julie ging noch zur Grundschule und hatte mit Jungs genauso viel im Sinn wie mit aufreizenden Dessous. Beides existierte, beides würde sie irgendwann zu schätzen lernen, aber zurzeit konnte sie damit noch nichts anfangen. Das war zweifellos die richtige Entwicklung für ein junges Mädchen.
Pia kannte leider auch andere Beispiele. Sie hatte Mädchen in Julies Alter zu gewissen Männern befragen müssen. Männern, die sechs- bis achtjährigen Mädchen die Unschuld genommen hatten. Sie hatte in die Gesichter dieser Kinder geblickt, als sie von dem Grauen berichten mussten. Es waren traurige, schmerzverzerrte Fratzen ohne Hoffnung. Sie alle wussten, dass sie etwas Wichtigem beraubt wurden, was sie stets für unantastbar gehalten hatten, ihre Kindheit. Nie wieder würden sie unbeschwert auf dem Spielplatz herumtoben, nie wieder könnten sie anderen Menschen blind vertrauen. Ihre Seelen wurden zerstört für den Rest ihres langen Lebens.
Pia wollte den Mädchen helfen, alles Böse zu vergessen. Sie hätte ihnen so gerne ihr sorgloses Leben zurückgegeben. Aber das lag nicht in ihrer Macht. Sie konnte die Uhr nicht für sie zurückdrehen und alles ungeschehen machen. Pia konnte nur zwei Dinge tun: Die Männer für ihre kranken Triebe möglichst lange einsperren lassen und ihre schützende Hand über ihre eigenen Kinder halten. Sie würde ihr Leben dafür geben, damit ihren Töchtern nicht dasselbe Schicksal widerfuhr. Bisher war ihr das auch gelungen.
Julie lernte prächtig und würde sich ebenfalls für da s Gymnasium empfehlen. Für Hanna stand die Welt in Bälde offen. Wenn ihre Teenager-Tochter nicht plötzlich in der Schule einbrechen sollte, könnte sie nach dem Abitur alles studieren, was sie wollte. Ihnen sollte eine rosige Zukunft bevorstehen.
Pia setzte sich auf die Couch ihres stimmig eingerichteten Wohnzimmers (immerhin hatte sie die dunklen Möbel zu dem hellen Teppich höchstpersönlich ausgesucht) und setzte ein breites Grinsen auf. In ihrer Familie lief gerade alles so prächtig, dass es kaum auszuhalten war. Sie musste sich manchmal kneifen, um festzustellen, dass sie nicht träumte. Umso wichtiger war es ihr deshalb, dass sie sich für diejenigen stark machte, denen das Leben weniger wohlgesonnen war. Aus diesem Grund wollte sie am Abend auch unbedingt den Wohltätigkeitsball für notleidende Kinder besuchen. Ihr Mann kannte dort einflussreiche Persönlichkeiten und wollte weitere Gelder für seinen Jugendclub locker machen.
Auch Pia hatte mittlerweile Kontakt e in den gehobenen Kreisen der Spender geknüpft und wusste, wo sie die Leute kitzeln musste, damit sie ein paar Scheinchen für den guten Zweck springen ließen. Solche Veranstaltungen bereiteten ihr nicht immer Vergnügen. Manchmal musste sie schleimen und Komplimente aussprechen, die sie nicht ernst meinte, aber das gehörte auch zum Geschäft. Und es war ja schließlich für
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