Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald
Tatverdacht. Unser Behördenleiter fällt rückwärts vom Stuhl, wenn Sie einen solchen Antrag einreichen.«
»Könnte man nicht wenigstens einen Wachskopf aus dem Totenschädel modellieren, damit man sich die Frau besser vorstellen kann?«
»Da bekommt unser Chef garantiert einen Herzinfarkt, das ist viel zu teuer…«
»Irgendwelche anderen Vorschläge?«
»Wir schicken den Schädel zu einem Kollegen im Erkennungsdienst, der exzellent mit der Software für Personenbeschreibungen umgehen kann. Er soll den Kopf vermessen und daraus eine Phantomzeichnung erstellen. Mehr ist nicht drin. Das Bild zeigen wir überall rum, eine Kopie schicken wir an die Zeitung und eine an den Herrn Senner.«
»Muss das sein?«
»Er kennt die Leute in seiner Kirchengemeinde und kann uns Arbeit abnehmen. Das ist doch nicht schlecht. Oder wollen Sie jeden einzeln befragen? Wir haben genug zu tun.«
»Mit den Vermisstenmeldungen sind wir auch noch nicht viel weiter. In Bayern sind es fünf ungeklärte Fälle aus jener Zeit, ich lasse mir die Akten kommen und überprüfe es. Die anderen Bundesländer lassen sich Zeit mit der Antwort, diese Sesselfurzer.«
»Wo haben Sie denn den Ausdruck aufgeschnappt? Scheint, als würden Sie hier langsam heimisch werden. Machen Sie sich nichts vor, Mirwald. Wir haben einen kalten Fall, schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten.«
»Laut Polizeistatistik werden hundertfünfzig bis zweihundertfünfzig Menschen als abgängig gemeldet, täglich wohlgemerkt. Die Hälfte der Fälle ist in einer Woche geklärt, mehr als fünfundneunzig Prozent binnen Jahresfrist. Mehr als sechstausend Personen gelten in Deutschland derzeit als vermisst.«
»Schlaues Kerlchen. Sie haben in der Vorlesung aufgepasst, Mirwald. Blöderweise gehört unsere Unbekannte zu den restlichen fünf Prozent, also zu den Vorgängen, die nach dreißig Jahren für immer ins Archiv wandern werden.«
»Da haben wir immerhin noch zehn Jahre Zeit.«
»Sie vielleicht, ich nicht. Ich will meine Rente genießen. Und die Verbrecher machen deswegen auch keine Pause.«
»Ich setze auf das Röntgenbild des Gebisses. Alle Zahnärzte im Umkreis von fünfzig Kilometern haben von uns Post erhalten. Da landen wir vielleicht einen Treffer. Die Schulen dürfen wir übrigens auch nicht vergessen. Genauso wenig wie die Industrie- und Handelskammern wegen eines möglichen Ausbildungsnachweises.«
»Was ist eigentlich mit den Nachbarn und dem Eigentümer des Ackers?«
»Was soll mit denen sein?«
»Ich frage mich, ob die nicht etwas mitbekommen haben müssten. Da müsste es damals doch Spuren von dem Aushub gegeben haben. Prüfen Sie das, Mirwald. Ich sehe uns schon bald wieder einen Ausflug aufs Land machen. Hoffentlich hält das Wetter.«
16
D ie Totenbretter wirkten von fern wie ein Totempfahl. Sie zogen die Blicke jedes Spaziergängers auf sich, und das war wohl auch ihr Zweck: den Besucher zum Halt zu bewegen, ihn die Inschrift lesen zu lassen, zum Nachdenken anzuregen über Vergänglichkeit und Tod. Warum lebte der Mensch nicht für immer? Warum riss der Allmächtige manchen so früh aus dem Leben? Was erwartete uns nach dem Sterben? Solche Fragen bewegten die Menschheit seit Jahrtausenden. Und seit Jahrtausenden lieferte die Kirche Antworten. Antworten, die nicht jedem behagten, die manche ablehnten oder lächerlich machten, und doch spendeten sie vielen Trost und Hoffnung. Sie halfen, das Unerträgliche erträglich zu machen und die unerbittlichen Launen des Schicksals zu ertragen. Nicht umsonst hatte die Kirche als einzige Institution der Welt zweitausend Jahre überlebt.
Baltasar sprach ein Gebet für jene, deren Namen auf der Tafel standen. Er war sich nach wie vor unsicher, ob unter den Brettern tatsächlich Gräber mit Särgen zu finden waren. Es selbst herauszufinden, dazu war ihm gründlich die Lust vergangen. Eine Frage drängte sich ihm dennoch auf: Bestand eine Verbindung zwischen den Totenbrettern und dem Mädchen? Hatte der Täter diesen Ort also bewusst gewählt, und wenn ja, warum?
Da konnte nur ein Fachmann weiterhelfen. Nach einigen Erkundigungen und Telefonaten hatte Baltasar einen Termin mit Emanuel Rossmüller vereinbart und sich das Auto seines Freundes Philipp Vallerot geliehen, wobei er einige spöttische Bemerkungen über die Knauserigkeit der katholischen Kirche über sich ergehen lassen musste. Wurde Zeit, dass die Diözese endlich einen Dienstwagen spendierte. Er holte den Heimatpfleger zu Hause ab und fuhr mit ihm
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