Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald
unsere Steuergelder?«
»Ich hab eine Idee«, sagte Sebastians Mutter. »Früher haben doch weit mehr Familien Zimmer an Urlauber vermietet. Vielleicht kann sich von denen jemand an das Mädchen erinnern.«
»Man könnte auch in den Schulen nachfragen. Möglicherweise ging die Kleine auf die Realschule oder aufs Gymnasium«, sagte Hollerbach. »Oder sie hat eine Lehre gemacht.«
»Oder sie war Austauschschülerin aus Amerika«, ergänzte Gabriele Fink. »Wer weiß denn, ob sie nicht aus Amerika angereist ist, zu ihrer Brieffreundin. Oder zu ihrer Großtante. Oder zu ihrem Brieffreund. Dann war es doch ein Liebesdrama. In Amerika wird man sie vermissen, da bin ich mir sicher, da muss sich die Polizei nur umhören. Oder sie war siebzehn Jahre in einem Keller eingesperrt und wurde auf der Flucht ermordet.«
»Jetzt reicht’s aber, Gabriele«, sagte Lydia Schindler. »Wir sollten die Kirche im Dorf lassen.«
»Der Herr Pfarrer kann sicher Hilfe gebrauchen. Wenn es mein Kind wäre, würde ich zu allen Heiligen beten, damit ich weiß, was mit meiner Tochter geschehen ist. Die Unsicherheit ist das Quälendste für eine Mutter. Es kann doch sein, dass sie gerade in diesem Augenblick irgendwo sitzt und an ihre Kleine denkt.«
»Alle reden von einem Verbrechen«, sagte Hoelzl. »Dabei kann es genauso gut ein Unfall gewesen sein. Was soll man aus so einem alten Gerippe schon schlussfolgern?«
Baltasar hatte genug von den Spekulationen auf Stammtisch-Niveau. Er ließ sich seine Leberkäs-Semmel einpacken, hatte aber mittlerweile den Appetit verloren.
15
S ieben verschiedene Mappen lagen vor Wolfram Dix auf dem Schreibtisch, alle in Einheitsfarbe, säuberlich beschriftet. Wie im Finanzamt. Er konnte sich nicht überwinden, eine zu öffnen und zu lesen. Wie er dieses Aktenstudium hasste! Lieber ließ er sich im Gespräch Zusammenfassungen der Resultate geben, das war viel effektiver. Wen interessierten schon die Zahlenkolonnen aus dem Labor, die Analysen mit den lateinischen Fachbegriffen, das Wortgeblubber der Gutachter? Diese Menschen lebten in ihrem eigenen Kosmos, dachte der Kommissar, sie waren vom wirklichen Leben so weit entfernt wie die Erde von der Sonne. Manchmal stellte er sich vor, wie diese Fachidioten am Abend zur Entspannung Wörterbücher oder Listen des Statistischen Bundesamtes lasen, zitternd vor Begeisterung über jede Zeile, dazu ein Schlückchen Rotwein aus dem Reagenzglas.
Zu Dix’ Missmut trug auch ein belegtes Brot bei, das er von der Hülle aus Aluminiumfolie befreit hatte. Margarine, das sei gut gegen Cholesterin, hatte seine Frau gesagt, dazu fettreduzierte Käsescheiben, quadratisch und in Fabrikqualität, dafür garantiert geschmacksfrei. Und natürlich das ballaststoffreiche Brot, ein dunkelbraunes Elend, bei dem einem die Körner zwischen den Zähnen hängen blieben und das so bekömmlich war wie eine eingeweichte Pressspanplatte. Noch dazu hatte seine herzallerliebste Gattin darauf bestanden, das Brot in eine Plastikbox zu packen, weswegen sich Dix vorkam wie ein Schuljunge mit seinem Pausenbrot. Die Box hatte er sogleich wieder in der Tasche verschwinden lassen, schließlich wollte er sich nicht dem Spott der Kollegen aussetzen. Um seinen Tagtraum von einem Schweinsbraten mit rescher Kruste zu verscheuchen, rief er seinen Assistenten an.
»Mirwald, wie schaut’s aus, gehen wir raus zum Frühstücken? Da können wir in Ruhe über den Fall sprechen.«
»Ich hatte heute früh Orangensaft und ein Müsli mit Joghurt.«
»Das ist doch kein Frühstück, Mirwald, das nennt man Mangelernährung. Haben Sie die Akten gelesen?«
»Alles erledigt, und Sie?«
»Ich wollte von Ihnen das Wichtigste in Kurzform hören.«
»Also nicht gelesen.«
»Immer schön langsam, mein übereifriger Kollege. Es schult das kriminalistische Denken ungemein, wenn man aus komplexem Datenmaterial die Essenz herausfiltert.«
»Wenn Sie das sagen, wie könnte ich Ihre Weisheit anzweifeln.« Die Ironie war nicht zu überhören. »Also gut, die DNA-Analyse hat ergeben, dass das Mädchen höchstwahrscheinlich braune Augen und Haare hatte, keinerlei Veranlagungen zu Erbkrankheiten hatte, siebzehn Jahre alt war, vermutlich aber älter wirkte. Jetzt brauchen wir nur noch einen Verwandten, um die Identität zu bestätigen.«
»Sie Spaßvogel, das ist leichter gesagt als getan. Wir können schließlich nicht ins Blaue hinein DNA-Proben aller Bewohner der umliegenden Landkreise nehmen. Das geht nur bei konkretem
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