Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald
den Kruzifixen, die kaum ein Wanderer übersehen kann. Die Idee dahinter war und ist, dass man ein Gebet spricht für den Verstorbenen oder das Kreuzzeichen macht. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Bei den jüngeren Totenbrettern befinden sich keine Gräber. Kommen Sie, schauen wir uns noch die Exemplare bei Regen an. Ist nicht weit zu fahren.«
Südlich der Kreisstadt Regen fuhren sie an der Burgruine Weißenstein vorbei, die auf einem Quarzfelsen, dem Pfahl, thronte. Wieder war Baltasar mulmig zumute: Folgte ihnen ein Fahrzeug? Wurden sie beobachtet? Bald erreichten sie eine Holzkapelle, bei der sie stehen blieben. »Das ist ein Beleg dafür, dass die Totenbretter nicht immer nur freistehend montiert wurden«, sagte der Heimatpfleger. Mehrere Exemplare hingen an der Außenwand, sie waren kleiner als jene auf den Feldwegen, wirkten wie Votivtafeln von Wallfahrtskirchen. »Die Inschriften, wie Sie sicher bemerkt haben, Hochwürden, waren bisweilen durchaus humorvoll: ›Hier ruht Barbara Genter, sie wog zweieinhalb Zentner, gebe ihr Gott in der Ewigkeit nach ihrem Gewicht die Seeligkeit.‹ Oder was halten Sie von diesem Spruch über eine siebenundsiebzigjährige Frau? ›Kaum blühte sie zur Rose auf, war ihr das Grab beschieden.‹«
Eine Zeitlang studierten sie die verschiedenen Texte, während Rossmüller einzelne Motive fotografierte. »Ich versuche alles festzuhalten, von den alten, verloren gegangenen Totenbrettern gibt es nämlich dummerweise nur wenige Aufnahmen. Fast alle antiken Stücke sind längst verschwunden. Das hatte seinen Grund. Die Leute glaubten, die Seele des Verstorbenen müsse so lange im Fegefeuer bleiben, bis das Totenbrett komplett zerfallen war. Erst dann war sie frei. Deshalb benutzten die Angehörigen meist Fichtenholz, das vergammelte schnell.«
Rossmüller schlug vor, noch eine dritte Ausflugsstation anzusteuern, die Gemeinde Arnbruck, gut zwanzig Kilometer nördlich von Regen. Die Route führte westlich von Bodenmais vorbei bis zum Ortseingang der Gemeinde Arnbruck. Baltasar sah im Rückspiegel ein dunkles Fahrzeug, das ihnen in gleichmäßigem Abstand folgte und keine Anstalten machte zu überholen. Er fuhr an den Straßenrand, stellte den Motor ab und wartete. Der Fahrer hinter ihm gab Gas und überholte sie. So sehr sich Baltasar auch bemühte, das Gesicht des Fahrers war nicht zu erkennen. War es dasselbe Auto wie vorhin? Er war sich nicht sicher. Warum sollte ihnen jemand folgen?
Die Galerie der Totenbretter war nicht zu übersehen. Es waren etwa achtzig Exemplare, die sich bei der Liebfrauenkapelle aneinanderreihten. Das Gotteshaus aus der Barockzeit war zugleich eine kleine Wallfahrtskirche. Sie gingen hinein, Baltasar verharrte vor dem Altar mit der Statue der Mutter Gottes und dem Christuskind. Die Marienverehrung zeigte sich in weiteren Statuen an den Seitenwänden, Blumen lagen darunter, Weihekerzen unterschiedlicher Größe brannten, verziert mit Kreuzen und lateinischen Sprüchen. Eine zeigte ein Wachsbildnis der Kirche, eine andere zwei gekreuzte Rosen. Rossmüller erzählte von der Legende: Als der Schuster Wolff Schleiderl todkrank darniederlag, gelobte er den Bau einer Kapelle »Marien Heimsuchung«, wenn sie ihn errettete. So geschah es, und im Jahr 1644 wurde der Grundstein gelegt.
Baltasar und Rossmüller schritten die Straße ab, um jedes einzelne Erinnerungsmal zu inspizieren. Das älteste stammte aus dem 19. Jahrhundert, manche waren vom Wetter fast schwarz gegerbt, andere zeigten die Schriften auf weißem Grund, und auf einigen hatten die Nachfahren ein Foto des Verstorbenen angebracht.
»Der Brauch der Totenbretter ist in den vergangenen Jahren wieder aufgeblüht.« Rossmüller ging zurück zum Auto. »Das liegt allerdings weniger an einer Welle der Frömmigkeit als vielmehr daran, dass die Gemeinden durch die Brauchtumspflege Touristen anlocken wollen. Deshalb wurden neue Totenbretter aufgestellt und alte restauriert.«
Auf der Heimfahrt musste Baltasar die Frage loswerden, die ihn am meisten umtrieb. Er berichtete von dem Fund der Polizei und dem ungesühnten Verbrechen. »Glauben Sie, Herr Rossmüller, da besteht eine Verbindung zu den Totenbrettern?«
»Ich hab die rekonstruierte Zeichnung vom Gesicht des Mädchens in der Zeitung gesehen und den Artikel gelesen«, sagte der Heimatpfleger. »Die Fundstelle kenne ich, dort hab ich vor zwei Jahren fotografiert.« Er blätterte in seinem Album, bis er die Seite fand. Baltasar schielte vom Steuer auf
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