Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald
plötzlich eine Gestalt. Er nahm das Fernglas an die Augen und stellte scharf. Die Frau trug eine Mütze, ihr Gesicht kannte er nicht; sie konnte also nicht aus seiner Gemeinde stammen. Sie holte einen Kanister aus ihrer Tasche und tauchte ihn in das Quellbecken. Dann setzte sie sich an den Rand und zündete sich eine Zigarette an. Nachdem sie zu Ende geraucht hatte, verstaute sie ihre Ladung und verschwand.
Wie spät mochte es sein? Baltasar hatte keine Uhr dabei, nur sein Magen sagte ihm, dass es Zeit zum Abendessen war. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierherzukommen. Es konnte ja auch ein ganz anderer Freitag gemeint gewesen sein. Er überlegte, wie lange er noch hier liegen bleiben sollte, bis er wieder zurückging, und gab sich eine halbe Stunde. Nun schien sich die Zeit noch mehr zu dehnen. Unwillkürlich begann Baltasar die Sekunden zu zählen, unterließ es aber wieder und konzentrierte sich auf die Umgebung.
Waren die dreißig Minuten vorbei? Baltasar beschloss, dass es nun soweit war, stand auf, nahm den Rucksack und streckte seine Glieder. Fast hätte er vor Schreck sein Gepäck wieder fallen lassen. Vor ihm, keine zwanzig Meter entfernt, standen zwei Personen. Sie blickten in die entgegengesetzte Richtung. Hatten sie ihn gesehen? Warum hatte er sie nicht kommen hören? Er hielt den Atem an, ging langsam zu Boden und drückte sich in seine Mulde.
Die beiden, ein Mann und eine Frau, gingen zu der Kapelle und unterhielten sich leise. Nach und nach trafen weitere Personen ein, alle in Straßenkleidung, manche Frauen trugen ein Kopftuch, einige Männer Kappen oder Hüte. Es schien, als wartete die Gruppe auf jemanden. Baltasar zählte ein Dutzend Menschen, sie kannten sich, begrüßten sich mit Handschlag, redeten miteinander. Auffällig war, dass offenbar niemand Flaschen oder Kanister für das Wasser dabeihatte.
Wenig später kam eine Gestalt, die sofort die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zog. Der Hut war tief ins Gesicht gezogen, der Mann trug einen dunklen Umhang, was dem Auftritt etwas Imposantes verlieh, aber Baltasar an Dracula-Filme mit Christopher Lee erinnerte. Fehlten nur noch die Fledermaus und die Beißerchen, dachte er. Nun formierte sich eine Reihe vor der Quelle, die Menschen hatten Kerzen angezündet und trugen sie vor sich her. Klein-Dracula marschierte voraus, tauchte den Finger ins Wasser und schlug das Kreuzzeichen. Er trat zur Seite, woraufhin die anderen seinem Beispiel folgten und dasselbe Ritual vollzogen. Der Mann sagte etwas, was in der Entfernung nicht zu hören war. Erneut formierte sich die Gruppe, diesmal als Zweierreihe. Sie stimmte ein Lied an, Baltasar musste sich konzentrieren, um den Text zu verstehen:
»Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit,
unser Leben, unsre Wonne und Hoffnung, sei gegrüßt!
Zu dir rufen wir verbannte Kinder, zu dir seufzen wir
trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.
Wohlan denn, unsre Fürsprecherin,
wende deine barmherzigen Augen uns zu.«
Er kannte das Lied, es war die deutsche Version von »Salve Regina«, einem katholischen Kirchengesang. Die Töne hallten durch den Wald, als wollten sie die Geister herbeirufen und besänftigen.
Die Prozession zog singend von der Quelle zu der kleinen Kapelle. Dort stellte jeder seine Kerze vor der Marienstatue ab, die Menschen bildeten einen Halbkreis, der Fledermausmann trat in die Mitte und hob die Arme. Sofort wurde es still. Sehr theatralisch, dachte Baltasar, der Obervampir hält eine Ansprache, bevor er sich sein Blutopfer aussucht. Biss zum Abendbrot.
Doch es kam anders. Die Anwesenden falteten die Hände und sagten etwas auf, das wie ein Gebet klang. Baltasar ärgerte sich, dass er sein Versteck so weit entfernt ausgesucht hatte, traute sich aber nicht, näher heranzuschleichen. Nicht auszudenken, wenn er jetzt ertappt würde!
Während der Zeremonienmeister eine Ansprache hielt, kam bei Baltasar nur Gemurmel an. Nur einzelne Worte konnte er in dem Sermon ausmachen: »Gelübde«, »ewiges Schweigen« und »Verdammnis«. Die Menschen nickten und riefen: »So ist es!« Der Anführer drehte sich um und kniete vor der Marienstatue nieder.
Baltasar tastete nach dem Fernglas. Vorsichtig richtete er es auf die Gruppe. Der Fledermausmann hatte ihm immer noch den Rücken zugekehrt. Sosehr er sich auch bemühte, allein anhand der Silhouette konnte er ihn nicht identifizieren. Eine gebückte Gestalt sah aus wie Walburga Bichlmeier, aber sie hatte den Kopf
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