Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald
so prominent wie Altötting, ich find aber unsere schöner.« Urban lachte. »Ein wenig Konkurrenz muss schon sein, auch unter Wallfahrtsstätten. Gerade bei der Marienverehrung.«
Der Turm mit dem Zwiebeldach war unübersehbar und dominierte die Gegend. Im barocken Innenraum stach sofort der Hochaltar ins Auge. Umrahmt von Säulen, thronte die Marienfigur über dem Tabernakel. Das Gesicht war fast schwarz, die Statue war geschmückt mit einem Brokatstoff.
Urban wies auf verschiedene Details der Statue hin. »Es gibt eine Reihe von Gewändern für die Jungfrau Maria«, sagte er. »Im Laufe der Jahrhunderte haben vermögende Wallfahrer immer wieder gespendet.«
»Und wie sieht es mit Schmuck aus?«
»Die normalen Pilger haben meist kleinere Beträge in den Opferstock gesteckt, wenn sie zu Besuch kamen. Hochgestellte Persönlichkeiten, etwa Adelige, wollten sich nicht lumpen lassen und haben tiefer in die Tasche gegriffen. Sie stifteten Halsketten aus Gold und Silber, Edelsteine oder Rosenkränze. Bei passenden Gelegenheiten wurde der Statue eine dieser Kostbarkeiten angelegt. Heute lagert alles im Archiv und im örtlichen Wallfahrtsmuseum.«
»Also verwendete man auch Rosenkränze zur Dekoration der heiligen Figur?«
»Natürlich. Schließlich erwarteten die Stifter, dass ihre Geschenke auch zu sehen waren und nicht nur in einer Schatztruhe verstaubten. Deshalb wechselte man den Schmuck immer wieder durch.« Urban zeigte Baltasar die Sammlung von Votivkerzen und Votivtafeln, mit denen Besucher ihren Dank zeigten oder Bitten vortrugen. »Aber Sie sind eigentlich wegen der Rosenkränze hier, Herr Senner. Was wollten Sie wissen?«
»Zum einem: Könnte ich in Neukirchen den Produzenten einer ganz bestimmten Kette finden?«
»Kommt drauf an. Die meisten Rosenkränze sind Massenware aus Holz. Deshalb konnte sich das Handwerk im Bayerischen Wald so gut entfalten. Sie dürfen sich das nicht wie in einer Fabrik vorstellen, alles ist von Hand gemacht. Die Ketten werden bis heute in Heimarbeit hergestellt. Oft ist das ein Zuverdienst für die Hausfrauen. Sie wissen, Herr Senner, mit Vollzeit-Arbeitsplätzen sieht es bei uns nicht so toll aus. Und Ware aus einem Wallfahrtsort kommt beim Kunden gut an. Die Herkunft macht’s. Das ist wie beim Champagner. Echt ist nur das Original aus der Champagne.«
»Aber könnte man erkennen, ob ein Rosenkranz aus dieser Gegend kommt?« Baltasar holte die Schachtel aus seiner Tasche. »Ich habe nämlich ein besonderes Stück mitgebracht, von dem ich nicht weiß, wer es entworfen und produziert hat.« Er hob den Deckel und holte Sebastians Rosenkranz heraus.
»Du lieber Gott!« Urban war erschrocken. Er bekreuzigte sich. »Stecken Sie das wieder weg und kommen Sie mit!«
Der Pfarrer marschierte los, sodass Baltasar nichts anderes übrig blieb, als zu folgen. Baltasars Fragen, was denn bloß los sei, ignorierte er. Erst als sie in dem Museum im ehemaligen Pflegschloss am Marktplatz waren, beendete Urban sein Schweigen.
»Ich kenne diesen Rosenkranz.«
Baltasar stand mit offenem Mund da.
»Ich bin mir ziemlich sicher. Ich müsste nur mal in den Unterlagen nachsehen. Einen Augenblick.« Urban redete mit der Museumsangestellten, verschwand mit ihr im Keller und kam mit einem Aktenordner zurück. Er streifte den Staub ab und begann, darin zu blättern.
»Da haben wir es.« Er tippte auf einen vergilbten Zeitungsausschnitt. »Lesen Sie selbst.«
Es war nur ein kurzer Artikel: Ein wertvoller Rosenkranz aus Neukirchen war entwendet worden. Ein Foto zeigte Baltasars Kirche, betitelt als »Ort des Diebstahls«, ein zweites Foto den Rosenkranz. Es war eindeutig dieselbe Kette.
»Der Rosenkranz wurde aus meiner Kirche geklaut?« Baltasar konnte es kaum glauben.
»Das hat damals ziemlich hohe Wellen geschlagen, deshalb erinnere ich mich noch daran. War Anfang der achtziger Jahre, ich hatte hier gerade angefangen. Die Kette selbst war ein Geschenk der hiesigen Pfarrei für die Marienfigur in Ihrer Kirche. So viel ich weiß, gab es einen Spender im Hintergrund, der das Ganze finanziert hat. Das Schmuckstück wurde eine Zeitlang bei uns ausgestellt, es war eine Rarität, ein Unikat, eine wunderschöne Juwelierarbeit. Und anlässlich der Übergabe gab’s eine ergreifende Feier.«
»Davon hat mir mein Vorgänger nichts erzählt. Und die Diözese auch nicht.«
»Der Diebstahl ist schon lang her, etwa zwei Jahrzehnte, ist vermutlich längst vergessen. Soviel ich weiß, wurde der Täter nie
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