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Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald

Titel: Stossgebete - Ein Krimi aus dem Bayerischen Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Schreiner
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seitlich gedreht, Baltasar war sich unsicher. Der Mann daneben konnte Nepomuk Hoelzl sein. Oder auch nicht. Er suchte nach Gesichtern. Hubert Schindler tauchte im Feldstecher auf, die Miene konzentriert, wie abwesend. Neben ihm stand Christina Schindler, seine Ehefrau. Rechts daneben Alfons Fink und seine Frau Gabriele. Sebastian konnte er hingegen nirgends entdecken, der Körpergröße nach zu urteilen waren nur Erwachsene anwesend.
    Einige Zweige verdeckten die Sicht. Baltasar versuchte sie wegzuschieben, seine Arme reichten jedoch nicht so weit. Auf dem Bauch liegend zog er sich nach vorn. Ein halber Meter fehlte. Er robbte weiter. Immer noch zu wenig. Das Fernglas war ihm im Weg. Er legte es zur Seite und versuchte, mit einer Art Liegestütz die richtige Position zu finden. Als er sich wieder zu Boden sacken ließ, spürte er etwas Hartes, und im nächsten Moment war es passiert: Der Zweig unter ihm brach. Das Knacken kam Baltasar lauter vor als ein Kanonenschlag.
    Sofort erstarben die Gebete. Die Köpfe wandten sich in seine Richtung. Baltasar wagte nicht mehr zu atmen. Der Vampirkönig gab ein Zeichen, worauf sich zwei Personen von der Gruppe lösten und näher kamen. Mit Ästen bewaffnet stocherten sie in Büschen und Sträuchern, als wollten sie Wild aufscheuchen. Oder einen Menschen in seinem Versteck. Sie kamen näher. Immer näher. Baltasar konnte mittlerweile ihre Gesichter erkennen: Alfons Fink und Hubert Schindler. Was ihm ein mulmiges Gefühl einjagte, war die grimmige Entschlossenheit der beiden, als könnten sie es kaum erwarten, den Störenfried zu fassen und zu erschlagen wie eine Ratte.
    Baltasar drückte den Kopf in die Erde, wagte sich nicht mehr zu bewegen. Er schickte ein Gebet gen Himmel, der liebe Gott möge ihn verschonen. So wollte er nicht enden. Die Männer waren noch zwei Meter entfernt.
    »Da ist nichts«, sagte Fink. »Vielleicht war es ein Tier. Wir sollten uns nicht verrückt machen lassen.«
    »Hast recht. Drehen wir um.« Schindler rief den Versammelten zu: »Alles in Ordnung.«
    Sie machten kehrt. Baltasar spürte, wie ihm ein Schweißtropfen über die Stirn lief. Das war gerade noch mal gut gegangen. Jetzt bloß nicht durch fahrige Bewegungen alles zunichtemachen. Vielleicht hatte der liebe Gott wirklich geholfen, denn mittlerweile dämmerte es bereits. Das Licht im Wald war wie mit einem Dimmer heruntergedreht und ließ die Konturen verschwimmen.
    Die Gruppe wandte sich wieder der Kapelle zu. Der Anführer schloss die Vitrine auf und nahm behutsam den Rosenkranz heraus, der um die Hand der Marienfigur gewickelt war. Er hob die Kette hoch und küsste sie. Anschließend wickelte er sie sich um die Hand, kniete nieder und sprach mit monotoner Stimme. Baltasar glaubte, die Verse zu hören, die beim traditionellen Rosenkranz gebetet wurden, darunter die »schmerzhaften Geheimnisse«:
    »… der für uns Blut geschwitzt hat,
    der für uns gegeißelt worden ist,
    der für uns mit Dornen gekrönt worden ist,
    der für uns das schwere Kreuz getragen hat …«
    Aber auch unbekannte Sätze waren darunter, eigene Gedanken, die der Vorbeter hinzufügte, Gedanken über Tod und Rache, Himmel und Hölle, Sünde und Vergebung. Es folgte die komplette Litanei des Rosenkranzes mit allen Wiederholungen. Das Grau des Waldes hatte sich in Schwarz verwandelt, die Gestalten waren nur als Schatten im Kerzenlicht auszumachen.
    Endlich, Baltasar kam es wie eine Ewigkeit vor, löste sich die Gruppe auf. Man verschloss die Vitrine, die Menschen schüttelten sich die Hände und verbeugten sich vor ihrem Fledermausguru. Taschenlampen flammten auf, der Trupp setzte sich in Bewegung.
    Baltasar wartete, bis die Lichtpunkte zwischen den Bäumen verschwunden waren. Er suchte seine Sachen zusammen und folgte dem Pfad, den auch die anderen genommen hatten. In Trippelschritten, um bloß nicht zu stolpern, tastete er sich durch die Dunkelheit.
    Diese seltsame Versammlung ging ihm im Kopf herum. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine Schar von Gläubigen, die sich an einem geweihten Ort zur Andacht traf. Das war eigentlich lobenswert und verdiente Anerkennung. Der Haken an der Sache war, dass der Platz nicht geweiht war, zumindest nicht offiziell. Und der Anführer verhielt sich nicht gerade wie ein Priester – im Gegenteil, die Geheimniskrämerei hatte etwas Sektiererisches. Warum musste man sich ausgerechnet zu später Stunde im Wald treffen? Warum nicht in einer normalen Kirche, wie gläubige Christen es taten?

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