Stout, Maria
auch
deinem Nächsten nicht an! Dies ist das Gesetz: Der ganze Rest ist Kommentar."
Das Mahabharata sagt den Anhängern des Hinduismus: "Dies ist die Summe des
Dharmas: Füge keinem anderen zu, was dir Schmerzen bereiten würde, wenn es dir
zugefügt würde." Und auch in den Naturreligionen findet sich die Goldene
Regel - die Joruba in Nigeria sagen: "Bevor einer mit spitzem Stock ein
Küken sticht, soll er es erst an sich selbst probieren, um zu fühlen, wie es
schmerzt." Und Schwarzer Elch, der religiöse Führer der Lakota*, hat
gelehrt: "Alle Dinge sind unsere Verwandten; was wir allem zufügen, das
fügen wir uns selbst zu. Alles ist in Wirklichkeit Eins."
Die
wenigen Religionen, die das Prinzip der wechselseitigen Moral nicht befolgen,
sind in heutiger Zeit entstanden und lassen im Grunde genommen durch ihren
eisigen Charakter die warmherzige Moral der urtümlichen Goldenen Regel als
noch attraktiver erscheinen. Zur Illustration könnte man das "Creativity
Movement" anführen, eine militant antisemitische und antichristliche
Gruppierung, die sich früher als "World Church of the Creator"
bezeichnet hat. Diese Religion beruht auf der Liebe zur "Weißen Rasse"
und schreibt vor, alle Menschen anderer Rassen zu hassen. Innerhalb dieser
Doktrin ist jeder, der nicht "Weiß" ist, per definitionem ein
Angehöriger der "Schlammrassen". Die zentrale Maxime des Creativity
Movement lautet: "Ist etwas gut für die Weiße Rasse, ist es höchste
Tugend; ist etwas schlecht für die Weiße Rasse, ist es schlimmste Sünde."
Es ist nicht überraschend, dass es das langfristige Ziel des Creativity
Movement ist, die Weltherrschaft der "Weißen Rasse" herbeizuführen.
Im
willkommenen Gegensatz dazu glauben die meisten religiösen und spirituellen
Traditionen an die Goldene Regel und auch an die eine oder andere Variante der
Überzeugung von Schwarzer Elch: "Alles ist in Wirklichkeit Eins". Die
Unteilbarkeit, das Einssein ("oneness") ist für einige Religionen
ein fundamentalerer Grundsatz als für andere. Während zum Beispiel die judäisch-christliche
Tradition ihre Anhänger anweist, ihre Nachbarn zu lie-
*
Anmerkung des Übersetzers: Die Lakota sind ein Unterstamm der Sioux-Indianer
und gehören zur nordamerikanischen Urbevölkerung.
ben, lehrt
der fernöstliche Mystizismus, dass Individualität - das Ego - von vornherein
eine Illusion ist, dass wir nicht von Gott oder einander verschieden sind und
daher, in einem spirituellen Sinne, unsere Nachbarn sind. In seinem
Buch Peace Is Every Step 74 * versucht
der vietnamesische Buddhismus-Lehrer Thich Nhat Hanh diesen Aspekt
fernöstlichen Denkens für Abendländer zu erklären, indem er von "inter-sein"
spricht. Wir seien unentrinnbar und untrennbar mit jedem und allem im
Universum verbunden, und dieser Zustand des Interseins sei der Grund, warum
wir nicht egoistisch (und eitel) individuelle Besitztümer und Macht anstreben
sollten.
Der Glaube
an die Unteilbarkeit ist ebenfalls - wenn auch weniger offensichtlich - ein
Bestandteil der judäisch-christlichen Tradition. Als 1939 abermals ein
verheerender Versuch, die Weltherrschaft zu erlangen, Europa erschütterte,
hielt der jüdische Theologe und Philosoph Martin Buber in Tel Aviv vor dem
Nationalkongress jüdischer Lehrer Palästinas eine Rede. 75 Er
beendete seine Ausführungen mit den Worten: "Nichts bleibt, als was über
dem Problemungetüm des heutigen Abgrunds, wie über den Abgründen von je, sich
erhebt, der Flügelschlag des Geistes und das schaffende Wort. Aber wer aus der
Einheit sehen und hören kann, wird auch wieder schauen und vernehmen, was sich
ewig schauen und vernehmen lässt. Der Erzieher, der dazu hilft, den Menschen
wieder zur eigenen Einheit zu bringen hilft dazu, ihn wieder vor das Angesicht
Gottes zu stellen."
In welcher
Tradition auch immer sie angewandt werden mögen - spirituelle Praktiken mit dem
Ziel, ein Bewusstsein für Intersein zu schaffen, haben oft den faszinierenden
psychischen
*
Anmerkung des Übersetzers: Dieses Buch ist 1991 in deutscher Übersetzung unter
dem Titel Ich pflanze ein Lächeln: Der Weg der Achtsamkeit im
Goldmann-Verlag (München) erschienen.
Nebeneffekt,
dass sie ihren ergebensten Anhängern ein hohes Maß irdischen Glücks vermitteln,
fast unabhängig von den äußeren Umständen. In dem Buch Destructive
Emotions: A Scientific Dialogue with the Dalai Lama 76 *, einer
Kollaboration des Psychologen Daniel Goleman und Seiner Heiligkeit, dem Dalai
Lama,
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