Stout, Maria
sind Verhaltensweisen, die wir
nicht verstehen, ja, kaum glauben können. Eher zweifeln wir unsere eigene
Wahrnehmung der Realität an.
Und oft sind
unsere Selbstzweifel extrem. Zur Illustration mag die erstaunliche öffentliche
Reaktion - die noch dreißig Jahre nach ihrem Tod anhielt - auf die kriminelle
Karriere einer gewissen Barbara Graham dienen. Im Jahr 1955 wurde Graham im
Alter von 32 Jahren für ihre Beteiligung an der besonders brutalen Ermordung
einer betagten Witwe namens Mabel Monahan in San Quentin hingerichtet.
Gerüchten zufolge hielt Mrs. Monahan - wie die ermordete Tante von Ingrid
Bergman im Film "Gaslight" - wertvollen Schmuck in ihrem Haus
versteckt. Graham brach mit drei Komplizen in das Haus ein und, als sie kein
Geschmeide finden konnten, schlug Graham (in den Medien unter dem Spitznamen "Bloody
Babs" bekannt) der alten Frau mit ihrer Pistole ins Gesicht, bis sie fast
zur Unkenntlichkeit entstellt war und erstickte sie dann mit einem Kissen.
Die letzte
Äußerung von Bloody Babs, die vor ihrer Hinrichtung protokolliert wurde,
lautete: "Gute Menschen sind sich immer so gewiss, im Recht zu sein."
Diese Feststellung traf sie in aller Ruhe, fast mit einem Anflug von Mitgefühl
- es war ein passables suggestives Manöver. Daraufhin kamen vielen Menschen
Zweifel an ihrer Wahrnehmung von Graham, und so richtete sich die öffentliche
Aufmerksamkeit vermehrt auf ihre Rolle als attraktive Mutter von drei Kindern
und weniger auf ihr grausiges Verhalten. Nach ihrem Tod wurde sie Gegenstand
einer emotional geführten Debatte, und bis heute wird vielfach entgegen handfester
Beweise behauptet, dass sie unschuldig gewesen sei. Solcherlei öffentlichen
Zweifeln entsprangen zwei Filme über sie, beide unter dem Titel I want to
Live! (Ich will leben!). Im ersten Film spielte Susan Hayward
die Hauptrolle, die ihr einen Oscar einbrachte, und 1983 erschien ein Remake
als Fernsehfilm mit Lindsay Wagner in der Hauptrolle. In beiden Versionen
wurde die sadistische Mörderin Barbara Graham als tragisch verkannte Frau
dargestellt, die einem Komplott zum Opfer gefallen war.
Barbara
Grahams letzte Worte - "Gute Menschen sind sich immer so sicher, im Recht
zu sein" - hatten eine so suggestive Wirkung, weil das genaue Gegenteil
der Fall ist. Tatsächlich ist es eine der markanteren Eigenschaften guter
Menschen, dass sie sich nie ganz sicher sind, im Recht zu sein. Gute Menschen
ziehen reflexartig und permanent ihr Urteil in Zweifel und unterwerfen ihre
Entscheidungen und Handlungen der strengen Prüfung des intervenierenden Gefühls
der Verpflichtung, das ihren Bindungen zu anderen Menschen entspringt. Die
Selbstkritik des Gewissens gesteht dem Verstand nur selten absolute Gewissheit
zu, und selbst dann erscheint uns Gewissheit als trügerisch, da sie uns dazu
verführen kann, jemanden zu Unrecht zu bestrafen oder eine andere
ungerechtfertigte Handlung zu begehen. Selbst im juristischen Sinne sprechen
wir von "jenseits vernünftiger Zweifel" und nicht von völliger
Gewissheit. Letztlich hat uns Barbara Graham sehr viel besser verstanden als
wir sie, und mit ihrer letzten Bemerkung hat sie auf einen irrationalen, aber
sehr empfindlichen psychologischen Knopf bei den Menschen gedrückt, die sie
überlebt haben - die Sorge, eine Entscheidung auf der Basis zu großer
Gewissheit getroffen zu haben.
Überdies
wird unsere Unsicherheit dadurch noch verstärkt, dass wir zumeist instinktiv
begreifen, dass es Zwischentöne von Gut und Böse gibt anstatt absoluter
Kategorien. Wir wissen in unseren Herzen, dass es keinen vollkommen guten
Menschen gibt, und so nehmen wir an, dass es auch keinen durch und durch bösen
Menschen geben könne. Und vielleicht trifft das im philosophischen Sinne - und
gewiss im theologischen Sinne - durchaus zu. Schließlich ist in der
judäisch-christlichen Tradition der Teufel selbst ein gefallener Engel.
Wahrscheinlich gibt es keine absolut guten und auch keine vollkommen schlechten
Menschen. Wie dem auch sei - psychologisch gesprochen, gibt es definitiv Menschen,
die ein in ihren emotionalen Bindungen verwurzeltes, intervenierendes Gefühl
der Einschränkung haben, während anderen Menschen ein solches Gefühl fehlt.
Wird das nicht erkannt, geraten alle gewissenhaften Menschen - und alle Mabel
Monahans der Welt - in Gefahr.
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