Stout, Maria
zu
erkennen? Dieser Frage widmet sich das nächste Kapitel. Es ist eine interessante
Frage mit einer durchaus überraschenden Antwort.
S E C H S
wie man
die erbarmungslosen erkennt
Mitten in
der Wüste belehrte einst ein alter Mönch einen Reisenden, dass die Stimme
Gottes sich von der des Teufels kaum unterscheiden ließe.
—Loren
Eiseley
Eine der
Fragen, die mir in meiner Praxis am häufigsten gestellt werden, lautet: "Wie
kann ich erkennen, wem ich trauen kann?" Da meine Patienten Überlebende
psychischer Traumata sind und die meisten von ihnen durch andere menschliche
Wesen zugrunde gerichtet wurden, ist diese Frage nicht überraschend.
Andererseits bin ich der Überzeugung, dass es sich hier um ein dringliches Problem
für die meisten Menschen handelt, auch für diejenigen, die keine schweren
Traumata erlitten haben, und dass wir alle sehr darum bemüht sind
einzuschätzen, inwieweit andere Menschen ein Gewissen haben. Besonders
interessiert uns der "Gewissensquotient" von Menschen, zu denen wir
eine enge Beziehung haben; und wenn wir eine attraktive Person kennen lernen,
wenden wir oft erhebliche geistige Energie für Argwohn, Spekulation und
Wunschdenken im Zusammenhang mit dieser Frage auf.
Die
Unzuverlässigen tragen keine besonderen Hemden oder Markierungen auf der Stirn,
und die Notwendigkeit, häufig aufs Geratewohl kritische Einschätzungen anderer
Menschen vornehmen zu müssen, führt zu irrationalen Strategien, die leicht zu
lebenslangen Vorurteilen werden können. "Trau keinem über dreißig", "Trau
nie einem Mann", "Trau nie einer Frau" sind die beliebtesten
Beispiele. Wir wollen eine klare, ja umfassende Regel, weil es so wichtig für
uns ist zu wissen, vor wem wir uns hüten müssen, aber diese pauschalen
Strategien sind ineffektiv und, schlimmer noch, können uns Ängste und Kummer
bringen.
Es gibt
kein narrensicheres Kriterium oder einen Lackmustest für Vertrauenswürdigkeit,
es sei denn, man kennt jemanden seit langer Zeit sehr gut, und man muss diese
Tatsache akzeptieren, wenn es auch lästig sein mag. Diese Unsicherheit ist
schlichtweg ein Teil des menschlichen Daseins, und ich kenne niemanden, der
völlig davor gefeit wäre, außer vielleicht durch sehr glückliche Umstände.
Überdies bedeutet die Vorstellung, es gäbe dafür eine effektive Methode - eine
Methode, die man nur bisher noch nicht entdeckt hat -, sich das Leben auf
demütigende und unfaire Weise zu erschweren.
Wenn es
darum geht, anderen Menschen zu vertrauen, machen wir alle Fehler. Einige
dieser Fehler sind größer als andere.
Dies
vorausgeschickt antworte ich, wenn mich jemand nach Vertrauen fragt, dass es
gute und schlechte Nachrichten gibt. Die schlechte Nachricht ist, dass es
tatsächlich Individuen gibt, die kein Gewissen haben und dass man ihnen unter
keinen Umständen trauen kann. Im Durchschnitt sind vielleicht vier von einer
zufällig ausgewählten Gruppe von hundert Menschen auf diese Weise
eingeschränkt. Die gute Nachricht - die sehr gute Nachricht - ist, dass
mindestens 96 von
hundert Menschen an die Einschränkungen des Gewissens gebunden sind und daher
von diesen Menschen zu erwarten ist, dass ihr Verhalten einem annehmbar hohen
Standard von Anstand und Verantwortung genügt - dass sie sich, mit anderen
Worten, mehr oder weniger so gut benehmen wie Sie oder ich. Und aus meiner
Sicht ist diese zweite Tatsache sehr viel wichtiger als die erste. Sie bedeutet
erstaunlicherweise, dass nach einem bestimmten Maß an sozialverträglichem
Verhalten unsere zwischenmenschliche Welt zu etwa 96 Prozent sicher sein sollte.
Aber warum
scheint dann unsere Welt so schrecklich unsicher zu sein? Wie können wir die
Abendnachrichten erklären oder auch nur unsere eigenen persönlichen schlechten
Erfahrungen? Was geht hier vor? Ist es denkbar, dass nur vier Prozent der Bevölkerung
für fast alle menschlichen Katastrophen verantwortlich sind, die auf der Welt
und in unseren individuellen Lebensläufen passieren? Dies ist eine alarmierende
Frage, die möglicherweise viele unserer Annahmen über die menschliche
Gesellschaft erschüttern könnte. So will ich wiederholen, dass das Phänomen des
Gewissens außerordentlich mächtig, beständig und dem Gemeinwohl dienlich ist.
Sofern er nicht unter dem Einfluss von Wahnvorstellungen, extremer Wut,
unentrinnbarer Not, Drogen oder einer destruktiven Autorität steht, wird ein
durch sein Gewissen gebundener Mensch nicht - im gewissen Sinne kann er es
nicht -
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