Stout, Maria
haben,
scheint ein solches Verhalten, wie unverschämt es auch sein mag, sozusagen eine
emotionale Farbtafel zu sein, in der das Hintergrundmuster (die Bitte um
Mitleid) ständig unsere Wahrnehmung des wichtigeren Vordergrundbildes (das
asoziale Verhalten) überlagert.
In langer
Rückschau sind soziopathische Appelle an unser Mitleid absurd und beklemmend.
Skip hat insinuiert, er verdiene Mitleid, weil er jemandem einen Arm gebrochen
hat. Doreen Littlefield hat sich als eine arme, überarbeitete Seele
dargestellt, die zu sensibel war, die Qualen ihres Patienten zu ertragen. Aus
dem Gefängnis heraus hat eine bezaubernde und liebenswerte Barbara Graham den
Reportern erklärt, dass die Gesellschaft sie daran hindern würde, ordentlich
für ihre Kinder zu sorgen. Und was die erwähnten Aufseher in Todeslagern
angeht: In den Vernehmungen, die 1945 den Nürnberger
Kriegsverbrecher-Prozessen 32 vorausgingen, beschrieben die
tatsächlichen Aufseher der Todeslager in ihren Aussagen, wie entsetzlich es
gewesen sei, für die Krematorien verantwortlich zu sein - wegen des Gestanks.
In Interviews, die der englische Historiker Richard Overy zitiert hat,
beklagten sich die Aufseher darüber, dass sie Schwierigkeiten hatten, auf der
Arbeit ihre belegten Brote zu essen.
Soziopathen
haben keinerlei Achtung vor dem Gesellschaftsvertrag, aber sie wissen ganz
genau, wie sie ihn zu ihrem Vorteil ausnutzen können. Und summa summarum glaube
ich, dass der Teufel - sollte er denn existieren - sich von uns allen wünschen
würde, ihn über die Maßen zu bemitleiden.
Bei der
Entscheidung, wem man trauen kann, sollte man sich darüber klar sein, dass
beständig schlechtes oder sehr ungehöriges Verhalten in Verbindung mit häufigem
Betteln um Mitleid ein so deutliches Warnsignal ist, wie man es sich - außer
einer Markierung auf der Stirn eines gewissenlosen Menschen - jemals erhoffen
kann. Ein Mensch, dessen Verhalten diese beiden Merkmale aufweist, ist nicht
notwendigerweise ein Massenmörder oder überhaupt gewalttätig, aber wohl
trotzdem jemand, dem Sie nicht Ihre Freundschaft anbieten, mit dem Sie keine
Geschäfte machen, den Sie nicht bitten sollten, auf Ihre Kinder aufzupassen und
den Sie nicht heiraten sollten.
Armer Luke
Wie steht
es denn um den wertvollsten Teil des Gesellschaftsvertrages? Wie steht es um
Liebe? Im Folgenden wird die Geschichte einer Frau erzählt, eine stille
Leidensgeschichte, die niemals in den Abendnachrichten erscheinen wird.
Meine
Patientin Sydney war nicht hübsch. Sie war 45 Jahre alt, hatte
schmutzig-blondes Haar, das allmählich ergraute und eine runde, mütterliche
Figur, die nie glamourös gewesen war. Aber sie besaß einen scharfen Verstand
und hatte eine lange Liste akademischer und beruflicher Leistungen
vorzuweisen. Noch bevor sie dreißig wurde, war ihr an einer Universität im
heimischen Florida eine außerordentliche Professur im Fach Epidemiologie
übertragen worden. Sie erforschte die Auswirkungen von Wirkstoffen, die in der
jeweiligen Medizin von Naturvölkern verwendet wurden, auf das Wachstum der
entsprechenden Bevölkerung; und bevor sie heiratete, hatte sie ausgedehnte
Reisen nach Malaysia, Südamerika und in die Karibik unternommen. Als sie von
Florida nach Massachusetts umzog, wurde sie Beraterin einer
ethno-pharmazeutischen Firmengruppe in Cambridge. Am besten gefiel mir aber ihr
sanftes Wesen und ihre nachdenkliche, introspektive Lebenseinstellung. Ich kann
mich gut an die sanfte Wärme ihrer Stimme erinnern, die mir während unserer
kurzen Therapie von fünfzehn gemeinsamen Sitzungen aufgefallen war.
Sydney war
von einem Mann namens Luke geschieden. Die Scheidung hatte ihre Ersparnisse
aufgefressen und sie gezwungen, sich zu verschulden, da sie sicherstellen
musste, das Sorgerecht für ihren Sohn Jonathan zu bekommen. Jonathan war acht,
als ich Sydney kennen lernte, und zum Zeitpunkt der Scheidung war er erst fünf
Jahre alt gewesen. Luke hatte eine kostspielige Auseinandersetzung
herbeigeführt, nicht etwa, weil er Jonathan liebte, sondern weil er wütend auf
Sydney war, da sie ihn gezwungen hatte, aus ihrem Haus auszuziehen.
Das Haus
in Florida hatte einen Swimmingpool, den Luke sehr schätzte.
"Luke
wohnte in dieser schäbigen kleinen Wohnung, als ich ihn kennen gelernt habe",
erzählte mir Sydney. "Es hätte von vornherein ein Alarmsignal für mich
sein sollen, dass ein 35J ähriger Mann, der Stadtplanung an der New York
University studiert hatte, in diesem miesen
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