Stout, Maria
drängende Frage: "Wie kann ich erkennen,
wem ich trauen kann?" - oder vielmehr, wem ich nicht trauen
kann.
Nachdem
ich seit fast fünfundzwanzig Jahren den Geschichten meiner Patienten über
Soziopathen, die sich in ihr Leben gedrängt und sie verletzt haben, zugehört
habe, ist man für gewöhnlich überrascht durch meine Antwort auf die Frage: "Wie
kann ich erkennen, wem ich nicht trauen kann?". Natürlich erwartet man,
dass ich ein finster klingendes Detail des Verhaltens oder der Körpersprache
oder bedrohliche verbale Äußerungen als subtiles Erkennungsmerkmal beschreibe.
Stattdessen verblüffe ich mein Gegenüber durch die Versicherung, dass der
entscheidende Hinweis nichts von alledem ist, denn keines dieser Merkmale ist
zuverlässig vorhanden. Vielmehr ist das beste Indiz ausgerechnet das Betteln um
Mitleid. Das zuverlässigste Merkmal, das universellste Verhalten skrupelloser
Menschen richtet sich nicht, wie man denken sollte, an unsere Furchtsamkeit -
es ist absurderweise ein Appell an unser Mitgefühl.
Ich bin
darauf gestoßen, als ich noch Doktorandin der Psychologie war und die
Gelegenheit hatte, einen gerichtlich eingewiesenen Patienten zu befragen, der
vom System bereits als "Psychopath" diagnostiziert worden war. Er war
nicht gewalttätig; er zog es vor, den Menschen durch raffinierten Anlagebetrug
das Geld aus der Tasche zu ziehen. Fasziniert durch diesen Menschen und seine
möglichen Beweggründe - ich war jung genug, zu glauben, dass er ein
ungewöhnlicher Mensch sei - fragte ich ihn: "Was ist Ihnen in Ihrem Leben
wichtig? Was wollen Sie mehr als alles andere?" Ich dachte, er würde
antworten "zu Geld kommen" oder "nicht in den Knast gehen"
- die Aktivitäten, denen er den größten Teil seiner Zeit widmete. Stattdessen
antwortete er, ohne auch nur einen Moment zu zögern: "Oh, das ist einfach.
Was mir besser gefällt als alles andere, ist, wenn man mich bemitleidet. Was
ich mir mehr als alles andere im Leben wünsche, ist das Mitleid anderer
Menschen."
Ich war
erstaunt und ziemlich abgestoßen. Ich glaube, er wäre mir sympathischer
gewesen, wenn er gesagt hätte "nicht in den Knast gehen" oder gar "zu
Geld kommen". Außerdem war ich verwirrt. Warum sollte dieser Mann - warum
sollte überhaupt ein Mensch - sich wünschen, bemitleidet zu werden oder gar vor
allen anderen seiner Wünsche danach streben? Ich konnte es mir nicht erklären.
Aber mittlerweile, nachdem ich fünfundzwanzig Jahre den Opfern zugehört habe,
ist mir klar, dass es einen sehr guten Grund für diese soziopathische Vorliebe
für Mitleid gibt. Die Erklärung ist so offensichtlich wie die Nase im Gesicht
und ohne Spiegel ebenso schlecht zu erkennen: Gute Menschen lassen einen
Jammerlappen sogar mit einem Mord davonkommen, sozusagen, und darum will jeder
Soziopath, der sein Spiel - was immer es auch sein mag - weiter spielen will,
immer wieder nichts anderes als Mitleid erheischen.
Mehr als
Bewunderung - ja, sogar mehr als Angst - ist das Mitleid guter Menschen eine
Carte blanche. Wenn wir Mitleid empfinden, sind wir, zumindest für den Moment,
wehrlos. Und wie so viele der eigentlich positiven menschlichen Eigenschaften,
die uns zu Gemeinschaften verbinden - soziale und berufliche Rollen, sexuelle
Bindungen, Achtung für Wohltätige und Kreative, Respekt für unsere Vorbilder -,
wird unsere emotionale Blöße, wenn wir Mitleid empfinden, durch die
Gewissenlosen gegen uns verwendet. Die meisten Menschen werden es nicht für
klug halten, jemandem Dispens zu gewähren, der keine Schuld empfinden kann;
aber oft tun wir gerade das, wenn sich jemand als bemitleidenswert darstellt.
Mitleid
und Anteilnahme sind gut, wenn sie Reaktionen auf das Unglück würdiger Menschen
sind. Wenn uns aber diese Empfindungen von Unwürdigen abgerungen werden, von
Menschen, deren Verhalten beharrlich asozial ist, dann ist das ein sicheres
Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt, ein potenziell nützliches Alarmsignal,
das wir oft ignorieren. Das vielleicht eingängigste Beispiel ist die geprügelte
Ehefrau, deren soziopathischer Ehemann sie routinemäßig schlägt und dann mit
in den Händen vergrabenem Kopf am Küchentisch sitzt und jammert, dass er sich
nicht unter Kontrolle habe und dass er ein armer Teufel sei, dem sie vergeben
müsse. Es gibt zahllose andere Beispiele, in anscheinend endlosen Varianten,
einige noch eklatanter als der gewalttätige Ehemann, während andere eher
unterschwellig sind. Und für diejenigen von uns, die ein Gewissen
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