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Stout, Maria

Stout, Maria

Titel: Stout, Maria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Soziopath von nebenan
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kein
unentrinnbares Schicksal, wie wir aus der Erforschung so vieler anderer
menschlicher Eigenschaften wissen. Der genetische Marmor unserer Lebensläufe
existiert schon vor unserer Geburt; aber nachdem wir zur Welt gekommen sind,
nimmt die Umwelt den Bildhauermeißel zur Hand und beginnt, mit Macht zu meißeln
an dem Material, das die Natur zur Verfügung gestellt hat. Erblichkeitsstudien
haben gezeigt, dass gerade bei Soziopathie die Biologie höchstens das halbe
Bild ist. Außer den genetischen Faktoren gibt es Umwelteinflüsse, die die Abwesenheit
eines Gewissens beeinflussen, wenn es auch, wie wir gleich sehen werden,
bislang ziemlich unklar ist, um welche Einflüsse es sich genau handelt.
    Ein
Verdacht, der sofort und intuitiv einleuchtet, ist Kindesmissbrauch.
Möglicherweise werden einige Menschen mit einer genetischen und neurologischen
Prädisposition für Soziopathie - im Gegensatz zu anderen - zu Soziopathen, weil
sie als Kinder missbraucht wurden und der Missbrauch ihr psychisches Befinden
und womöglich ihre ohnehin beeinträchtigten neurologischen Funktionen
geschädigt hat. Immerhin wissen wir mit Sicherheit, dass Kindesmissbrauch
zahlreiche andere negative Folgen hat, darunter gewöhnliche
(nicht-soziopathische) Jugendkriminalität und Gewalttätigkeit, Depressionen im
Erwachsenenalter, Suizidneigung, Dissoziation und vielfältige
Bewusstseinsspaltungen, Magersucht, chronische Angstzustände und
Drogenmissbrauch. Psychologische und soziologische Studien zeigen uns ohne den
Schatten eines Zweifels, dass Kindesmissbrauch ein potentes Gift für die Psyche
ist.
    Allerdings
ist es problematisch, Soziopathie auf frühen Missbrauch zurückzuführen, da es
hier, im Gegensatz zu nichtsoziopathischer Jugendkriminalität und gewöhnlicher
Gewalttätigkeit, keine überzeugenden Belege dafür gibt, dass das wichtigste
Merkmal der Soziopathie - also das Fehlen eines Gewissens - mit Misshandlung
im Kindesalter zusammenhängt. Darüber hinaus sind Soziopathen als Gruppe nicht
von den anderen tragischen Folgen von Kindesmissbrauch - wie zum Beispiel
Depressionen und Angststörungen - betroffen, und wir wissen aus einem reichhaltigen
Fundus an Forschungsergebnissen, dass die Überlebenden frühen Missbrauchs,
seien sie nun straffällig geworden oder nicht, vorhersehbar von solchen
Problemen geplagt werden.
    Tatsächlich
gibt es einige Belege dafür, dass Soziopathen weniger stark
durch frühe Erfahrungen beeinflusst werden als Nichtsoziopathen. 41 Zum Beispiel hatte in Robert Hares diagnostischen und statistischen Studien an
Gefängnisinsassen bei Häftlingen, die anhand der von Hare entwickelten Psychopathie-Checkliste als Psychopathen diagnostiziert worden waren, die Qualität des
Familienlebens im Kindesalter keinerlei Auswirkungen auf das zeitliche
Auftreten kriminellen Verhaltens. Unabhängig davon, ob ihr Familienleben stabil
gewesen war oder nicht, erschienen die diagnostizierten Psychopathen in einem
durchschnittlichen Alter von vierzehn Jahren erstmalig vor Gericht. Im
Gegensatz dazu hing bei Insassen, die nicht als Psychopathen diagnostiziert
worden waren (Häftlinge, deren zugrundeliegende Persönlichkeitsstruktur eher
normal war), das Alter der erstmaligen Straffälligkeit stark von der Qualität
des familiären Hintergrundes ab. Diejenigen mit einer stabileren Vergangenheit
erschienen erstmals im durchschnittlichen Alter von vierundzwanzig vor
Gericht, während jene mit einem problematischen Umfeld erstmals im Alter von
etwa fünfzehn Jahren straffällig wurden. Anders ausgedrückt: Eine schwere
Kindheit begünstigt und beschleunigt gewöhnliche kriminelle Aktivitäten, wie es
zu erwarten wäre; aber die Straftaten, die aus der Unerbittlichkeit der Soziopathie
resultieren, scheinen aus sich selbst heraus und nach ihrem eigenen Zeitplan
zu entstehen.
    Beharrlich
auf der Suche nach Einflüssen der Umwelt auf die Entstehung von Soziopathie
haben viele Forscher an Stelle des Kindesmissbrauchs per se das Konzept der Beziehungsstörung ("attachment disorder") aufgegriffen. Die normale Bindung
ist ein angeborener Mechanismus des Gehirns, der einen Säugling dazu
veranlasst, die Nähe seiner Mutter - oder einer anderen verfügbaren
Bezugsperson - zu suchen, so dass sich die allererste zwischenmenschliche
Beziehung entwickeln kann. Diese erste Beziehung ist entscheidend, nicht nur
für das Überleben des Säuglings, sondern auch, weil es dem unreifen limbischen
System des Säuglings ermöglicht, die reifen

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