Stout, Maria
Mai
beschloss Hannah, hinüberzufliegen und ihren inhaftierten Vater zu besuchen.
Wir sprachen darüber, wie emotional schmerzlich ein solcher Besuch für sie sein
würde, aber sie war dazu entschlossen. Wir führten mehrere Gespräche über ihre
bevorstehende Reise, um sie vorzubereiten auf unterschiedliche Situationen,
denen sie ausgesetzt sein könnte, und auf die Gefühle, mit denen sie würde
fertig werden müssen, wenn sie ihren Vater im Gefängnis besuchte. Aber nichts
hätte Hannah oder mich auf das vorbereiten können, was dann tatsächlich
passiert ist. Rückblickend betrachtet meine ich, dass er ein Stadium erreicht
hatte, in dem er ein Publikum für seine Gerissenheit suchte, eine
Gemütsverfassung ähnlich der von Skip, als er seine kleine Schwester an das
Seeufer lockte. Mir fällt kein anderer plausibler Grund dafür ein, warum
Hannahs Vater seiner Tochter gegenüber plötzlich so mitteilsam hätte sein
sollen. Was Hannah betrifft - sie hatte mir nicht mitgeteilt, dass sie die
Absicht hatte, ihren Vater zur Rede zu stellen. Vielleicht war sie sich vorher
selbst nicht darüber klar. Aus meiner Sicht ist ihr Verhalten bei ihrem Besuch
im Gefängnis eines der besten Beispiele dafür, wie viel ein Mensch über einen
anderen Menschen wissen kann, ohne sich dessen bewusst zu sein, das ich jemals
erlebt habe.
Als sie
nach Boston zurückgekehrt war, erzählte sie mir Folgendes von ihrem Gespräch.
Ich vermute, dass noch mehr besprochen wurde; aber dies ist alles, was Hannah
mir davon erzählt hat. Sie begann unter Tränen und beschrieb die abstoßende und
entwürdigende Prozedur, der man sich unterziehen muss, wenn man einen Häftling
im Gefängnis besuchen will. Dann hörte sie auf zu weinen und erzählte den Rest
in völliger Ruhe, mit einem gewissen rationalen Abstand.
Sie sagte:
"Ich hatte befürchtet, dass er jämmerlich und niedergeschlagen aussehen
würde; aber so war es überhaupt nicht. Er sah gut aus. Er sah ... ich weiß
nicht - lebendig aus, ja, das ist das richtige
Wort. Seine Augen funkelten. Ich habe ihn früher schon so gesehen, aber ich
habe wirklich nicht erwartet, dass er im Gefängnis so sein würde. Er schien
sich über meinen Besuch zu freuen, er hat nach meinen Zensuren gefragt. Ich
hatte erwartet, dass er auch nach Mama fragen würde, aber das tat er nicht.
Also habe ich mir gedacht: Warum soll ich es aufschieben? Und so habe ich ihn
gefragt."
Sie
erzählte das, als ob ich wüsste, was sie meinte, aber ich hatte keine Ahnung.
Ich sagte: "Was haben Sie ihn gefragt?"
"Ich
habe ihn gefragt: 'Was hat der Mann im Haus gesucht, Papa?' Er sagte: 'Welcher
Mann?' Aber ich bin sicher, dass er wusste, wen ich meinte. Er schien nicht
verlegen oder peinlich berührt zu sein oder so. Ich sagte: 'Der Mann, den du
erschossen hast.' Er hat nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Er sagte nur: 'Ach
so, der Mann. Er hat ein paar Namen
gesucht. Aber er hat sie nicht gefunden, das kann ich dir garantieren.' "
Hannah
hatte geredet, ohne mich anzusehen. Jetzt suchte sie Blickkontakt zu mir und sagte:
"Dr. Stout, sein Gesichtsausdruck ... Er sah aus, als ob wir über etwas
redeten, was ihm Spaß machen würde. Am liebsten wäre ich
weggelaufen, aber ich bin geblieben."
"Ich
wusste nicht, dass Sie ihn das fragen wollten. Sie sind großartig."
"Es
war furchtbar", fuhr sie fort, anscheinend, ohne gehört zu haben, dass ich
ihr Verhalten bewunderte. "Ich sagte: 'Also kanntest du ihn?' Und er
sagte: 'Natürlich kannte ich ihn. Warum sollte ich einen völlig Unbekannten
umbringen?' Und dann hat er gelacht. Er hat gelacht, Dr. Stout."
Sie sprach
mich immer noch direkt an, wenn auch mit beträchtlicher emotionaler Distanz zum
Thema, und fuhr fort: "Und dann sagte ich: 'Hast du etwas mit Heroin zu
tun?' Darauf hat er nicht direkt geantwortet. Er hat mir nur gesagt, ich sei
clever. Ist das zu fassen? Er hat zu mir gesagt, ich sei clever."
Sie
schüttelte ungläubig den Kopf und schwieg eine Weile.
Schließlich
half ich ihr weiter und fragte: "Haben Sie ihm noch andere Fragen
gestellt, Hannah?"
"Ja.
Ja, das habe ich. Ich habe gesagt: 'Hast du jemals jemanden anders umgebracht?'
Und wissen Sie, was er geantwortet hat?" Dann war sie wieder still.
Nach einer
Weile antwortete ich: "Nein, das weiß ich nicht. Was hat er gesagt?"
"Er
hat gesagt: 'Ich nehme den fünften Verfassungszusatz* in Anspruch.'"
Erst dann
begann Hannah wieder zu weinen, dieses Mal völlig ungehemmt. Ihre plötzliche,
herzzerreißende Trauer
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