Stout, Maria
werden, größer und besser, und das könnte - abhängig von den
Ressourcen und Talenten des jeweiligen Soziopathen - unmöglich sein. Und so
können für einen Soziopathen die Qualen der Langeweile fast chronisch sein.
Das
Bedürfnis, die Langeweile gelegentlich auf chemischem Wege zu lindern, ist
einer der Gründe dafür, warum Soziopathen anfällig für Alkohol- und
Drogenmissbrauch sind. Eine wichtige Komorbiditätsstudie, 68 die 1990
im Journal of the American Medical Association veröffentlicht
wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass bis zu 75 Prozent der Soziopathen
alkoholabhängig sind und 50 Prozent andere Drogen missbrauchen. Und so sind
Soziopathen häufig Süchtige im herkömmlichen Sinne, zusätzlich zu ihrer im
übertragenen Sinne bestehenden Sucht nach Risiko. Mit ihren "Höhepunkten"
und Gefahren bietet die Drogenszene mehr als eine Attraktion für die
Gewissenlosen; in der Drogenszene fühlen sich viele Soziopathen am wohlsten.
Eine
andere, 1993 im American Journal of Psychiatry veröffentlichte
Studie 69 ergab, dass unter den Süchtigen, die ihre Drogen intravenös
konsumierten und mit antisozialer Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden
waren, 18 Prozent HIV-positiv waren. Dagegen wurden unter Süchtigen, die ihre
Drogen intravenös konsumierten und nicht mit antisozialer
Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden waren, nur 8 Prozent HIV-positiv
getestet. Das höhere Risiko einer HIV-Infektion unter Soziopathen ist
vermutlich auf ihr riskanteres Verhalten zurückzuführen.
Diese
Zahlen bringen uns zurück zu einer Frage, die ich im ersten Kapitel gestellt
habe: Ist das Fehlen eines Gewissens das Ergebnis einer Anpassung, oder ist es
eine Geistesstörung? Eine funktionelle Definition des Begriffs Geistesstörung
ist ein psychischer Zustand, der eine schwerwiegend "gestörte
Lebenstüchtigkeit" ("life disruption") verursacht, also
gravierende und außergewöhnliche Einschränkungen der Fähigkeit einer Person,
gemäß ihrer allgemeinen Gesundheit und Intelligenz zu funktionieren. Der
gesunde Menschenverstand sagt uns, dass das Vorhandensein einer der bekannten Geistesstörungen - schwere Depressionen,
chronische Ängste, Paranoia, etc. - wahrscheinlich eine leidvoll "gestörte
Lebenstüchtigkeit" verursachen würde. Aber wie steht es um das Fehlen von etwas,
das wir gewöhnlich als rein moralische Eigenschaft ansehen? Wie steht es um das
Fehlen eines Gewissens? Wir wissen, dass Soziopathen sich fast nie in Therapie
begeben. Leiden sie aber trotzdem unter "gestörter Lebenstüchtigkeit"?
Ein Weg,
sich dieser Thematik zu nähern, ist die Überlegung, was einem Soziopathen im
Leben wichtig ist: Gewinnen und Dominanz. Und sich dann die seltsame Frage zu
stellen: Warum erreichen nicht alle
Soziopathen Positionen mit großer Machtfülle? Bedenkt man ihre fokussierte
Motivation und die Handlungsfreiheit, die aus dem Fehlen eines Gewissens
erwächst, sollten sie alle überragende politische Leitfiguren oder
internationale Topmanager sein oder zumindest hochgestellte Berater oder Diktatoren
von Kleinstaaten. Warum gewinnen sie nicht immer?
Denn das
tun sie nicht. Stattdessen sind die meisten von ihnen ziemlich unbedeutend und
darauf beschränkt, ihre kleinen Kinder oder eine deprimierte Frau zu
beherrschen oder vielleicht ein paar Angestellte oder Arbeitskollegen. Eine
erhebliche Anzahl von ihnen ist im Gefängnis, wie Hannahs Vater, oder gefährden
ihre Karriere oder ihr Leben. Nur sehr wenige sind märchenhaft reich wie Skip.
Noch weit weniger sind berühmt. Ohne jemals einen großen Eindruck auf der Welt
zu hinterlassen, sind die meisten von ihnen im Niedergang begriffen und werden
völlig ausgebrannt sein, wenn sie in die Jahre gekommen sind. Zeitweilig können
sie uns berauben und quälen, ja, aber letztlich sind sie gescheiterte
Existenzen.
Aus der
Sicht des Psychologen sind selbst jene in prestigeträchtigen Positionen,
selbst die berühmten Namen, nur gescheiterte Existenzen. Für die meisten
Menschen entsteht Glück durch die Fähigkeit, zu lieben, sein Leben nach höheren
Prinzipien zu leben (jedenfalls meistens) und einigermaßen zufrieden mit sich
selbst zu sein. Soziopathen können nicht lieben, sie haben per definitionem
keine höheren Prinzipien, und fast nie fühlen
sie sich wohl in ihrer Haut. Sie sind lieblos, amoralisch und chronisch
gelangweilt, selbst die wenigen unter ihnen, die reich und berühmt werden.
Und sie
fühlen sich nicht nur aus Langeweile unwohl in ihrer Haut.
Weitere Kostenlose Bücher