Stout, Maria
und
nein. Freud hat beobachtet, dass ein zu aktives Über-Ich seinen Besitzer in die
Depression und womöglich gar den Selbstmord treiben könne. Aber das Über-Ich,
diese maulende, disziplinierende, nach frühen Erlebnissen verinnerlichte
Stimme ist nicht das Gewissen. Und auch nicht das, was Psychologen als "ungesunde
Scham" ("unhealthy shame") bezeichnen - wobei es sich nicht
wirklich um Scham handelt im Sinne einer Reaktion auf begangene Missetaten, als
vielmehr um den irrationalen, durch negative Botschaften während der Kindheit
eingeimpften Glauben, dass die gesamte eigene Person irgendwie schlecht, abstoßend,
wertlos sei. Selbst ein bisschen ungesunde Scham ist zu viel, aber ungesunde
Scham ist kaum das normale Gewissen, das ein intervenierendes Gefühl der
Verantwortlichkeit ist und nicht ein destruktives Gefühl von Wertlosigkeit und
Elend. Wenn zeitgenössische Psychologen behaupten, zuviel Gewissen sei Gift,
ist ihre Wortwahl unüberlegt. Stattdessen meinen sie ungesunde Scham - oder ein
schrilles Über-Ich, das Überstunden macht.
Das
Gewissen, unser siebter Sinn, ist ein völlig anderes Phänomen. Es ist ein
Gefühl der Verpflichtung, das auf Liebe basiert. Und so bleibt die Frage: Ist
ein extremes Gewissen belastend oder erhebend?
Um zu
verstehen, wie sich ein stark ausgeprägtes Gewissen auf die Psyche auswirkt,
können wir die Lebensläufe und Zufriedenheit von Menschen betrachten, die ihr
angeborenes Gefühl eines Gewissens zu einem besonders starken emotionalen
Muskel ausgebildet haben. Jeder von uns könnte verschiedene Personen als seine
moralischen Helden benennen, von historischen oder öffentlichen Figuren bis hin
zu Menschen, die wir persönlich gekannt oder die uns mit ihrem moralischen
Verhalten beeindruckt haben. In einer systematischen Studie über solche Menschen
haben Anne Colby am "Radcliffe's Henry Murray Research Center" und
William Dämon am "Department of Education" der Brown University ihre
eigene Auswahl getroffen. 72 Beunruhigt wegen des gegenwärtigen von
ihnen so empfundenen Mangels an moralischer Führung haben Colby und Dämon
dreiundzwanzig Personen ausgewählt, die sie für moralische Vorbilder hielten,
elf Männer und zwölf Frauen, deren moralisches Engagement hervorragende
Beiträge in vielen Feldern erbracht hat, darunter Bürgerrechte und bürgerliche
Freiheiten, die Bekämpfung von Armut und Hunger, Religionsfreiheit,
Umweltschutz und Frieden. Diese dreiundzwanzig Personen gehören unterschiedlichen
Rassen, Religionen und Gesellschaftsschichten an und haben unterschiedliche
Ziele, aber ein Merkmal verbindet sie: Ein außergewöhnlich stark ausgeprägtes
Gewissen, ein "überentwickeltes" Gefühl der Verantwortung für das
Wohlergehen ihrer Mitmenschen. Aus der Perspektive eines Psychologen
repräsentieren sie in emotionaler und geistiger Hinsicht das den hier
dargestellten Soziopathen diametral entgegengesetzte Extrem.
Unter den
moralischen Vorbildern von Colby und Dämon finden sich Virginia Foster Durr,
die zur Bürgerrechtsaktivistin gewandelte Südstaatenschönheit, die als erste
Rosa Parks* in die Arme schloss, als diese aus dem Gefängnis entlassen wurde;
Suzie Valadez, die viele Jahre damit verbracht hat, für Tausende von armen
Mexikanern in Ciudad Juarez Nahrung, Kleidung und medizinische Versorgung zu
organisieren; Jack Coleman, vormals Rektor des Haverford College, der für seine
Auszeiten bekannt wurde, in denen er als Straßenarbeiter, Müllmann und Obdachloser
gelebt hat; der Geschäftsmann Cabell Brand, der sich der Gründung des Vereins "Total
Action Against Poverty" in Roanoke, Virginia, verschrieben hatte; und
Charleszetta Waddles, Gründerin der "Perpetual Mission", die ihr
Leben der Fürsorge für Alte und Arme, ledige Mütter, Prostituierte und
misshandelte Kinder in Detroit, Michigan, gewidmet hatte.
Die
Forscher studierten Autobiographien und mündliche Überlieferungen und führten
ausführliche Interviews mit jedem ihrer dreiundzwanzig Vorbilder und deren
Mitarbeitern. In ihrem Buch Some Do Care: Contemporary Lives
of Moral Commitment ("Manche haben Mitgefühl:
Zeitgenössische Lebensläufe moralischen Engagements") präsentieren sie
ihre Ergebnisse und berichten, dass es verblüffende Übereinstimmungen zwischen
Personen mit einem extrem ausgeprägten Gewissen gibt. Die Autoren bezeichnen
diese gemeinsamen Charakteristika als (1) "Gewissheit", (2) "Positivität"
und (3) "Einheit des Selbst mit
moralischen Zielen". "Gewissheit"
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