Sträfliche Neugier
seine überdurchschnittlich
guten Noten hatten ihm seine Eltern ein supermodernes Mountainbike mit mehr als
20 Gängen versprochen. Aber erst nach der Rückkehr aus dem verhassten Urlaub
wollten sie es ihm kaufen. Nun musste er sich in Geduld üben. Das bedeutete
aber drei Wochen stinklangweiliges Herumliegen am Strand oder stundenlange
Besichtigungen alter Städte und ähnlich geisttötende Vorhaben. Und dann diese
quälend langen Autobahnfahrten, das ständige Schimpfen seines Vaters über die
undisziplinierten Autofahrer – nein, das war nichts für ihn. Er hätte sich viel
lieber auf sein altes Fahrrad geschwungen und wäre mit den daheim gebliebenen
Freunden umher geradelt.
Widerwillig und mürrisch war Christian erst nach
mehrmaligen Zurufen seiner Mutter aufgestanden. Auch sie und sein Vater wirkten
unausgeschlafen und schienen sich gar nicht auf die Fahrt in den Urlaub zu
freuen, denn während des Frühstücks hatte bleiernes Schweigen geherrscht.
Nachdem die letzten Gepäckstücke im Auto verstaut waren,
machte Christian es sich auf der Bank hinter dem Beifahrersitz des Wohnmobils
bequem. Von diesem Platz aus konnte er seinen Vater nicht sehen, andererseits
auch von ihm nicht im Rückspiegel beobachtet werden, was ihm ganz lieb war.
»Also bleibt es dabei und wir fahren nach Italien an die
Adria, nach Rimini oder Cattolica? Oder habt ihr es euch anders überlegt? Wir
könnten auch ins Salzkammergut an einen der vielen Seen fahren. In ein paar
Stunden wären wir schon dort! Gleich kommen wir an das Inntal-Dreieck, bis
dahin müssen wir uns entschieden haben.«
Frank Seiffert lachte und musste fast schreien, denn sie
fuhren gerade den Irschenberg hinauf und das laute Dröhnen des Diesels
übertönte jedes normale Gespräch. Er hatte sich erst kürzlich dieses riesige
Wohnmobil gekauft und genoss die Tatsache, kurz entschlossen und ohne lange
Vorplanungen überall hinfahren zu können, unabhängig von Reisebüros und Hotels.
»Bitte nach Italien!«, rief Christian in der gleichen
Lautstärke zurück. »Denkt nur mal an den vielen Regen, den wir letztes Jahr in
Österreich hatten.« Die Adria mit der Aussicht auf Baden im Meer und das gute
italienische Eis waren seiner Meinung nach das kleinere Übel.
»Ich meine auch, dass wir lieber in den sonnigen warmen
Süden fahren sollten!«, brüllte seine Mutter.
»Okay, war ja nur ’ne Frage. Wir sind dann eben bis
spätabends unterwegs«, schrie Frank und versuchte die Motorgeräusche zu
übertönen. »Da kommt auch schon die Abzweigung nach Kufstein, hier müssen wir
raus!«
›Wären wir doch nur geradeaus
weitergefahren, von mir aus auch nach Salzburg‹ , so dachte Christian viele Wochen später, ›dann wäre
alles anders gekommen und uns allen ein grausames Schicksal erspart geblieben‹ .
Sie fuhren schon eine ganze Weile auf der Inntal-Autobahn
und näherten sich gerade Kufstein, als Frank in einer Rechtskurve und auf
seiner Überholspur ein Auto auf sich zurasen sah. Er versuchte noch, durch
Herumreißen des Lenkrads dem entgegenkommenden Wagen auszuweichen, aber alles
ging zu schnell. Der Mercedes des Geisterfahrers prallte mit der Wucht eines Geschosses
schräg auf die Fahrerseite des Wohnmobils. Es gab einen kurzen,
ohrenbetäubenden Knall, Metall- und Holzteile flogen durch die Luft, dann
hüllte eine riesige Staubwolke den Ort der Kollision ein. Das zur Hälfte
eingedrückte Wohnmobil schleuderte nach rechts, durchbrach die Leitplanke
hinter der Standspur und zerbarst danach an dem mächtigen Stamm einer Fichte.
Der Mercedes überschlug sich mehrmals, schlitterte einige hundert Meter weit
auf dem Dach und kam schließlich an der Mittelleitplanke zum Stillstand. Für
Sekundenbruchteile trat eine atemberaubende Stille ein – wie nach einem
Donnerschlag – dann schlugen Flammen aus dem Wageninnern. In einer regionalen
Zeitung las man am nächsten Tag:
Ein schwerer Verkehrsunfall führte gestern Vormittag zu einer
mehrstündigen Sperre der Inntal-Autobahn. Ein Geisterfahrer war aus Richtung
Kufstein kommend mit seinem Mercedes auf die Gegenfahrbahn geraten und frontal
mit einem Wohnmobil zusammengestoßen. Der Mercedesfahrer kam in seinem
brennenden Fahrzeug ums Leben.
Aus den Trümmern des Wohnmobils konnte nur noch der
12-jährige Christian S. mit lebensgefährlichen Verletzungen geborgen werden.
Ein ADAC-Hubschrauber brachte ihn zum Unfallkrankenhaus Murnau, sein Zustand
ist bedenklich. Für die Eltern des Kindes, den Rechtsanwalt
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