Sträflingskarneval
anderen Schluss konnte Ryan nicht ziehen. Um das Rätsel wirklich zu lösen, fehlten ihm noch zu viele Puzzleteile.
„Ich hoffe nur, dass wir den ersten Schritt bald wagen können“, unterbrach die nervöse Stimme von Hannah Donahue Ryans Überlegungen und sofort spitze er wieder die Ohren, um bloß nichts zu verpassen.
„Du weißt doch, dass wir noch nicht zuschlagen können“, antwortete Ophelia Buckley, wobei sie enttäuscht klang. Dann raschelte es, anscheinend erhob sie sich wieder von ihrem Stuhl. „Warten wir erst einmal das nächste Treffen ab, hören wir uns an, was die anderen bis dahin in Erfahrung gebracht haben und danach beratschlagen wir zusammen. Es bringt uns gar nichts, überstürzt zu handeln.“
Darauf folgte ein lang gezogenes und leises „Hmmmmmm“ und Ryan konnte hören, wie sich eine der beiden Frauen ein Stück entfernte.
„Dann werde ich mich jetzt um den Drachen Hinthrone kümmern und ihn um einen Gefallen bitten“, meinte Mrs. Buckley wieder gefasst. Es klang ein wenig, als wüsste sie mehr, als sie zu sagen bereit war.
„Gefallen?“, fragte Hannah verwirrt.
„Er schuldet mir so einiges. Ich sag es dir, sobald ich mehr weiß … aber ein Gebet könnte trotzdem nicht schaden. Kümmere du dich bitte um Aidan und Ryan?“
„Dieses Schwein wird dafür büßen!“, sagte die Krankenschwester wütend und völlig aus dem Zusammenhang gerissen. So etwas aus ihrem Mund zu hören, war Ryan fremd. Fast im selben Augenblick spürte er das mulmige Bauchgefühl zurückkehren. Er kannte es gut; und es bedeutete definitiv nichts Gutes.
„Glaub mir“, antwortete Ophelia sehr ernst. „Er wird büßen. In einem normalen irischen Gefängnis würde Mr. Smith … und wer noch daran beteiligt war … kein schönes Leben fristen. Hinterhältige Vergewaltiger werden selbst unter Mördern schlimm bestraft.“ Dann war es für einen Moment mucksmäuschenstill. „Ich werde jetzt gehen. Wenn es etwas Neues gibt …“
„Ich weiß Bescheid, Ophelia.“
Ryan vernahm ihre sich nähernden Schritte und sprang schnell zur Seite, weg von der Tür. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig sich in einer dunklen Nische zu verstecken. Von dort aus beobachtete er, wie Mrs. Buckley die Krankenstation verließ und in Richtung ihres Büros verschwand. Ryan verharrte mit rasendem Herzschlag an Ort und Stelle. Aus seinem beunruhigenden Gefühl wurde eine Mischung aus unaussprechlichem Mitgefühl und gnadenlosem Hass. Aidan war vergewaltigt worden! Smith hatte ihn missbraucht! Allein bei diesem Gedanken bekam er eine Gänsehaut und ekelte sich vor Smith. Er hatte Aidan das Schändlichste angetan, was ein Mensch einem anderen Menschen antun konnte.
Warum? Wieso?
War es möglicherweise Hinthrones Befehl gewesen? Oder war es vielleicht Smiths Rache für Ryans Tritte? Oder war es eine Mischung aus allem zusammen? Was für ein Grund konnte es geben, dass Smith Aidan das angetan hatte?
Am liebsten hätte Ryan laut geschrien und wäre sofort zu dem Muskelberg gerannt, um ihm das Leben aus dem Leib zu prügeln. Stattdessen krampfte er die Hände zusammen und bebte. Sein Atem kam stoßweise und in seinem inneren brodelte ein grenzenloser, unbeschreiblicher Zorn. Er musste sich sofort beruhigen. Er konnte nicht einfach zu den Aufsehern rennen und Smith angreifen. Damit würde er sich lächerlich machen und sich gleichzeitig verraten. Anstatt also unüberlegt zu handeln, fasste er zunächst einen folgenschweren Entschluss. Er wollte Adian helfen, mit allem, was ihm zur Verfügung stand!
Vergessen war alles, was sie einmal in ihrer gemeinsamen Schulzeit auf Omey Island zu Feinden gemacht hatte. Er erinnerte sich an Rossalyns Worte, als sie ihm sagte, Aidan wäre gerne ein Freund von ihm geworden. In Ordnung, er würde Aidan die einmalige Chance gewähren, ihm zu beweisen, wie ernst es ihm mit diesem Wunsch wirklich war. Erst später würde ihm bewusst werden, dass dieser Moment sein Leben für immer verändert hatte.
Vorsichtig trat er aus der Nische hervor und schlüpfte nahezu lautlos ins Krankenzimmer. Er setzte sich auf den gleichen Stuhl wie gestern und beobachtete Aidan, der noch immer schlief. Die besondere Heilsalbe hatte ihren Zweck bis jetzt gut erfüllt, denn die blauen Flecken an seinen Armen schienen bereits zu verblassen und die Striemen wirkten nicht mehr so intensiv. Dabei versuchte er krampfhaft nicht daran zu denken, welche Verletzungen Aidan außerdem noch zugefügt worden waren. So saß er fast
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