Sträflingskarneval
wünschte sich sehnlich, er könnte ihm auf der Stelle helfen und ihm einen Teil der Last von den Schultern nehmen, vor allem die grausame Misshandlung von Smith. Aus einem Reflex heraus hob Ryan die Hand und legte sie behutsam auf Aidans verbundene Rechte. „Ich bin mir sicher …“, flüsterte er tröstend und merkte, dass ihm das Sprechen plötzlich schwerer fiel, „… alles wird irgendwann gut. Du bist nicht allein … wir sind nicht allein … du kannst ab sofort auf Kimberly und mich zählen, egal, was es ist. Und Angst musst du auch keine mehr haben. Und Mrs. Buckley, die lässt dich auch nicht im Stich und ich sowieso nicht. Und vergiss nicht, was mal zwischen uns war, gehört jetzt der Vergangenheit an … unserem alten Leben. Zusammen kriegen wir das hin … ganz bestimmt. Wir spielen jetzt auf derselben Seite, von nun an sind wir Verbündete.“
Schweigend schaute Aidan Ryan mit feuchten Augen an. Nur langsam begann sein müdes Hirn zu begreifen, dass er plötzlich nicht mehr allein war und neben ihm jemand saß, der ihm tatsächlich helfen wollte. Nichtsdestotrotz war er ein verurteilter Verbrecher, der für seine Taten bestraft wurde. Ganz egal, auf welcher Seite er stand. Konnte er dieses Angebot überhaupt annehmen? Vielleicht wäre es besser, wenn er ablehnen würde und …
„Aidan?“, murmelte Ryan und zog die Hand zurück. „Sind wir ab heute Verbündete?“
Aidan schluchzte auf und wischte sich mit den Verbänden die Tränen weg, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Schließlich räusperte er sich. „Ja … Verbündete.“
Ryan lächelte glücklich, denn so war alles schon viel einfacher.
*
Erneute Stille breitete sich zwischen Ryan und Aidan aus, keiner der beiden musste etwas sagen. Ihr Schweigen war auch nicht unangenehm, im Gegenteil, es fühlte sich richtig an.
„Ryan?“, sagte Aidan nach einigen Minuten.
Der Angesprochene blickte auf und zum dritten Mal traf Rauchgrau auf Hellblau. Doch diesmal lagen weder Furcht noch Zweifel darin verborgen, sondern aufrichtige Freude. „Ryan?“, fragte Aidan nochmals. „Wir spielen doch jetzt mit offenen Karten und … also, wenn es dir hilft … ich muss dir noch etwas sagen.“ Sein flüsternder, ernster Tonfall verriet, dass das Folgende nicht für jedermanns Ohren bestimmt war. „Es war kurz nach meiner Verhandlung, nachdem ich wieder in der Zelle war. Plötzlich kam ein Wärter zu mir. Zuerst dachte ich, jetzt bringen sie mich nach Llŷr, stattdessen hat er mir einen Brief unter die Nase gehalten.“ Aidan machte eine kurze Pause und wartete, ob Ryan etwas dazu sagen wollte. Als nichts von ihm kam, fuhr er noch leiser fort. „Ich habe die Schrift sofort erkannt, der Brief war von meiner Mutter. Ehrlich gesagt war ich ganz schön überrascht, und als ich den Wärter fragte, woher er ihn habe, meinte er nur, er wäre ein Spion des Ordens. Ich solle den Brief schnell lesen, denn er müsse ihn sofort wieder mitnehmen. Niemand dürfte ihn bei mir finden und ich sollte auch keinem ein Wort darüber erzählen. Ich hab ihn auch gleich gelesen. Danach verstand ich zum ersten Mal, warum meine Mutter mir nicht helfen konnte und warum auch sonst niemand etwas unternommen hat. Weißt du, ich hätte bei dem Angriff gar nicht dabei sein sollen, aber die Formori haben mich dazu gezwungen.“
Das war Ryans Stichwort. „Ich würde lügen, wenn ich sage, das glaube ich dir nicht. Ich weiß , dass du unschuldig bist. Aber warum hat sie dir geschrieben? Was stand in diesem Brief?“
„Wie du ja weißt, ist die Originalabschrift des Gesetzes versteckt. Es gibt einen geheimen Weg zu diesem Versteck", sagte er geheimnisvoll. „Das alles hat mir mein Vater erst letztes Jahr erzählt. Er wollte – falls ihm etwas passieren würde – das ich als sein Nachfolger in seine Fußstapfen trete. Er sagte auch, wenn ich alt genug wäre, würde ich den sogenannten Wächterring bekommen, so wie er ihn vor zwanzig Jahren von meinem Großvater bekam. Außer meinem Dad und meiner Mum weiß niemand von dem Ring oder wo er sich befindet. Er sagte, ich würde es erst erfahren, wenn es nötig ist. Dieser Wächterring würde mir helfen, den Weg zu beschreiten. Ganz ehrlich, so wie er mir das erzählte, hatte ich richtig Angst, aber ich habe keine Ahnung, was er mir damit sagen wollte. Auf jeden Fall meinte er noch, er hätte mehrmals mit Collin Donan darüber gesprochen und sie wären sich einig gewesen, dass er richtig gehandelt hätte. Und jetzt wird es
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