Sträflingskarneval
Lügner enttarnt.“
„Ohhh“, Ryan errötete verlegen. „An so etwas hätte ich niemals gedacht, aber ich werde es mir merken.“
„Tja, für manche Dinge bin ich schon zu gebrauchen“, versuchte Aidan seine eigene Nervosität zu überspielen. Immer noch war es fremd für ihn, mit Ryan ohne Hintergedanken und Beleidigungen zu sprechen.
Darauf verfielen beide in nachdenkliches Schweigen. Aidan überlegte, ob er Ryan noch mehr Informationen anvertrauen sollte, anscheinend vertraute seine Mutter ihm; und vielleicht könnte man so etwas mehr Licht ins Dunkel bringen. Außerdem war jeder, der ihm und seiner Mutter Glauben schenkte, ein Verbündeter.
„Ich war ehrlich gesagt ganz schön geschockt, als ich dich Anfang September mit den anderen Sträflingen sah“, durchbrach Ryan die Stille.
„Ich auch“, gab Aidan geknickt zu. „Zuerst dachte ich, sie bringen mich sonst wo hin, aber dann hieß es plötzlich, wir würden beim Aufbau des Ordenshauses helfen. Ich hatte Angst, ich wollte gar nicht hierher, weil sie mich doch alle kennen und … noch mehr Angst, dass sie mir was antun – womit ich anscheinend recht hatte.“ Er hob vorsichtig seine verbundenen Hände.
Ryan schluckte. „Ja, da hattest du wohl leider … Soll ich dir mal was sagen? Ich kann die anderen einfach nicht verstehen.“
„Das musst du gar nicht. Sie sind zu recht sauer auf mich und auf meinen Vater. Mach ihnen daraus keinen Vorwurf, das tue ich auch nicht.“
Einen Moment dachte Ryan über diese Worte nach. Aidan hatte recht. Trotzdem wünschte er sich, dass die anderen genauso denken würden wie er.
„Ryan?“, sagte Aidan und blickte ihn fragend an. „Was passiert jetzt mit Merriweather? Hat Smith noch keinen Aufstand gemacht?“
Teils dankbar über diese ablenkende Frage und teils wieder wütend auf Merriweather und Smith, berichtete Ryan, was nach dem Angriff geschehen war. Über den Aufseher konnte er allerdings nichts sagen, er hatte bislang weder etwas gehört, noch ihn in der Nähe des Ordenshauses gesehen. Und er legte auch keinen gesteigerten Wert darauf.
Aidan seufzte und zitterte kaum merklich. Aber Ryan sah es trotzdem, ließ sich allerdings nichts anmerken. „Ich sehe ihn eh bald wieder, spätestens, wenn ich hier rauskomme. Er hat bestimmt schon ein paar Überraschungen für mich auf Lager, das wäre nicht das erste Mal.“
„Da wäre ich mir nicht ganz so sicher“, verkündete Ryan vorschnell und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, denn das hatte er erst einmal für sich behalten wollen. Immerhin wusste er nicht genau, was Mrs. Buckley wirklich vorhatte, nur dass es mit Aidan in Zusammenhang stand.
„Was meinst du? Du weißt doch irgendwas ... Sag schon ...“
Ryan räusperte sich und sah vorsichtig über seine Schultern, aber die Krankenschwester war immer noch mit Schreiben beschäftigt. Niemand, außer Kimberly natürlich, durfte erfahren, dass er das Gespräch am Morgen heimlich belauscht hatte. Er fühlte sich ziemlich unwohl in seiner Haut, da er solch intime Dinge über Aidan wusste. Ihm war klar, dass Aidan sich deswegen sehr schämen würde, und auch er verspürte Scham und Mitleid. Er konnte doch nicht einfach mit der Tür ins Haus fallen.
Überraschenderweise nahm Aidan ihm diese Entscheidung ab. „Also weißt du es? Hast du heute Morgen auch Mrs. Buckley und Mrs. Donahue belauscht?“ Aidan blickte traurig und verlegen zur Seite, und sein Körper wurde von einem leichten Zittern erfasst.
„Dass deine Mutter erpresst wird und du ein ... Opfer … von Smith bist?“, fragte Ryan kleinlaut und wurde blitzartig von einer Erkenntnis getroffen. „Du hast gar nicht geschlafen.“
„Erwischt“, gab Aidan zu und kämpfte offensichtlich gegen aufsteigende Tränen an. Er wollte sich nicht die Blöße geben und vor Ryan losflennen, aber so recht wollte es ihm nicht gelingen. Schon viel zu lange war er stark gewesen, und langsam wuchsen ihm seine Gefühle über den Kopf. Er hatte schreckliche Angst, war verzweifelt und konnte seine Mutter nicht beschützen, nicht einmal sehen durfte er sie. Ein riesiger Scherbenhaufen lag vor ihm, der einst sein unbesorgtes Leben gewesen war; er hatte nichts mehr zu verlieren. Dann übermannte ihn seine Verzweiflung und langsam rannen die ersten Tränen über seine mageren Wangen.
Ryans mulmiges Bauchgefühl, welches er nicht mehr loswurde, verstärkte sich als er von Aidans Tränen überrascht wurde. Er konnte dessen Schmerz und Trauer selbst spüren und
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