Sträflingskarneval
Erdgeschoss hinab und den Gang entlang, der ihn direkt zur Krankenstation führte. Er wollte gerade eintreten und hatte die Hand bereits am Türgriff, als er durch den Spalt zwei Gestalten wahrnahm. Einer plötzlichen Eingebung folgend blieb er lautlos stehen. Es waren Mrs. Donahue und Mrs. Buckley, die etwas abseits von Aidans Bett standen und sich leise miteinander unterhielten. Aidan schien noch zu schlafen. Vorsichtig zog Ryan den Kopf zurück und lauschte.
„So wie es im Augenblick aussieht, scheint der Junge kein Fieber mehr zu bekommen“, erklärte die Krankenschwester sachlich. „Als ich vorhin die Verbände wechselte, sahen die Wunde und die Narben an den Händen schon viel besser aus als gestern Abend. Aber er sollte mindestens noch eine Woche im Bett liegen bleiben, wenn nicht sogar länger und … und unbedingt etwas Anständiges essen.“
„Ich gebe gleich der Köchin Bescheid.“ Der Tonfall der Schulleiterin brachte sehr deutlich zum Ausdruck, dass sie Aidans körperlich schlechte Verfassung alles andere als gut hieß.
„Wenn das anschließend aber wieder so weiter geht“, meinte Hannah Donahue frustriert, „dann stirbt er zwar nicht mehr durch den Messerstich, aber dafür an Unterernährung, Erschöpfung oder einer Krankheit, die er sich von dem verschmutzten Trinkwasser einfängt.“
„Wohl wahr“, antwortete Mrs. Buckley verbittert. „Bartholemeus Hinthrone ist ein absoluter Trottel und einen Teil seiner Angst sowie seinen Ärger dürfen jetzt seine naiven Mitläufer ausbaden. Aidan hier …“, es entstand eine kurze Pause, etwas raschelte und Ryan vermutete, dass die Schulleiterin sich gesetzt hatte, bevor sie weiter sprach. „Aidan ist unschuldig. Er hat es doch nur aus Selbstschutz getan, aus Angst sein Leben zu verlieren, wenn er sich geweigert hätte.“ Sie seufzte. „Ich hoffe, dass er die schlimme Zeit übersteht, denn dann hat Hinthrone kein Druckmittel mehr gegen Rossalyn McGrath in der Hand. Auf jeden Fall ist der Junge sehr tapfer und weiß ganz genau, was auf dem Spiel steht.“
„Aber der Dank gebührt zum Teil auch Kendra“, warf die Krankenschwester ein und Ryans Neugier wurde größer. Vor Spannung hielt er den Atem an. „Ohne Kendra hätte Rossalyn uns gegenüber weiter aus Angst geschwiegen, oder schlimmer noch, Rossalyn wäre unter Hinthrones Druck zusammengebrochen und er hätte sein Ziel vielleicht schon erreicht.“
„Vielleicht“, gestand Mrs. Buckley zähneknirschend. „Aber so schlau ist er auch wieder nicht. Der Überfall kam ihm doch gerade recht. Obwohl ich mir denken könnte, dass er die Sache mit Lawren und dem Familiengeheimnis vielleicht schon vorher wusste und einfach abwartete, was passier t en würde. Dann hat er angefangen alle aus dem Weg zu räumen, die ihm in die Quere kamen oder ihm gefährlich werden könnten. Ich darf gar nicht an die arme Cecilia Jaramago denken.“
Die beiden Frauen. Ryan versuchte die eben gehörten Informationen zu verarbeiten. Im Klartext bedeutete es, Bartholemeus Hinthrone hatte von Anfang an ein abgekartetes Spiel getrieben. Er hatte Lawren McGrath und Aidan weggesperrt, damit sie ihm nicht mehr in die Quere kommen konnten. Aber alles nur wegen dieser alten Gesetzesabschrift und eines angeblich versteckten Hinweises? Es musste viel mehr dahinter stecken, als das seltsame Geschwätz von einem uralten Wegweiser, was auch immer sich an dessen Ende befand. Was verbarg der Großmeister wirklich, dass für ihn so verdammt wichtig war, dass er dafür Erpressung, Gewalt und sogar Mord in Kauf nahm?
Zuerst diese merkwürdige Verhandlung gegen Aidan, dann Hinthrones persönliche Verwarnung und die unausgesprochene Befürchtung, Ryan könnte ihm die Position streitig machen. Hinzu kam die offene Unterhaltung zwischen Kimberly, Kendra, Rossalyn McGrath und ihm. Nicht zu vergessen der Widerling Peter Smith, der es auf Aidan abgesehen hatte und die Warnungen von Mrs. Buckley, er und Kimberly sollten sich zurückhalten. Dann der angebliche Mord an Gilleans Mutter, die mit Rossalyn befreundet war, wovon kaum einer wusste. Aber warum das alles? Im Bezug auf seine Person konnte Ryan dem Mysterium ja noch irgendwie folgen, aber wie waren die anderen Dinge miteinander verwoben? Ryan sah keinen Zusammenhang. Zumindest glaubte er zu wissen, dass es unmittelbar nichts mit den Datla Temelos und dem Angriff auf den Orden zu tun hatte. Etwas anderes steckte hinter dem Ganzen, der Überfall hatte alles nur ins Rollen gebracht. Einen
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