Sträflingskarneval
wie ein heilender Balsam für ihre Seelen und schien ihre inneren Wunden zu heilen. Es war, als wären sie seit Kindertagen befreundet; und auch wenn es bisher niemand ausgesprochen hatte, so wussten beide, das der jeweils andere die gemeinsame Zeit in vollen Zügen genoss. Ryan freute sich immer wieder aufs Neue Aidan zu sehen, und Aidan sehnte sich tagsüber mit jeder verstreichenden Minute nach Ryans Rückkehr. Keiner der zwei jungen Männer dachte noch an ihre Vergangenheit zurück, für sie zählte nur die Gegenwart. In diesen Augenblicken, in denen Ryan und Aidan sich oft so nah waren wie niemals davor, verstanden sie sich ohne Worte und trieben unbemerkt ihre junge Freundschaft Schritt für Schritt in eine neue Richtung.
„Aidan, hab keine Angst“, flüsterte Ryan mehrmals, bis Aidan ruhiger wurde und sich aufrecht hinsetzte. Sein verweintes Gesicht verriet ihm schlagartig, was los war. „Es geht um Smith“, stellte er fest. „Du musst wegen ihm keine Angst mehr haben, er darf nicht herkommen … er hat striktes Hausverbot. Um alles andere kümmert sich Mrs. Buckley persönlich.“
Aidan schluckte und schaute Ryan panisch an. „Heute Morgen habe ich ihn gesehen und etwas gehört, was ich besser nicht gehört hätte.“
Ryans teils fragender, teils angespannter Blick genügte, um Aidan zum Weitersprechen zu bewegen. „Leah und Josh sind mit mir ins neue Gewächshaus gegangen, um frische Kräuter zu holen, da sah ich ihn. Er war weit weg, aber ich konnte sein Gesicht deutlich erkennen. Er grinste und … und … ich dachte er würde mich auf der Stelle … du weißt schon. Er hätte die Grenze ganz bestimmt ignoriert, wenn Leah und Josh nicht da gewesen wären.“ Er machte eine Pause, seufzte und fixierte anschließend den Boden.
Ryan spürte erneut Hass und Wut in sich aufsteigen, wenn er nur an das ekelhafte Schwein dachte. Und dieser Widerling arbeitete auch noch für Hinthrone.
„Ryan …“, holte Aidans bebende Stimme ihn aus den Gedanken. „Smith hat mir zugerufen … er meint, er bekommt mich. Er will … mich. Er meinte, er würde mich bekommen … irgendwann … irgendwann, wenn ich nicht daran denke. Ryan, ich habe Angst.“
Ein eiskalter Schauer schoss Ryans Rücken herab. Dann versuchte er sich selbst zu beruhigen und schloss seinen Zorn mit aller Macht in sich ein. Vorsichtig legte er eine Hand auf Aidans Finger und drückte sie. „Das sind für mich nur leere Phrasen“, antwortete er, und war absolut überzeugt von seinen eigene Worten. „Einfach leere Drohungen, um dir Angst zu machen. Lass es nicht zu. Du musst ihn reden lassen und nicht darauf hören. Du weißt doch so gut wie er, dass er nicht hierher darf und Mrs. Buckley dich beschützt. Und bitte vergiss nicht, Kim und ich sind für dich da. Auf seine blöden Einschüchterungsversuche darfst du nicht eingehen. Versuch nicht an ihn zu denken, und wenn er das noch einmal probiert, ignorier den Kerl.”
Ignorieren? dachte Aidan. Wenn er das nur könnte; dann würde er sicherlich nicht wie ein Häuflein Elend heulen und sich verstecken. Trotzdem tat es ihm gut, zu wissen, dass Ryan ihn nicht im Stich ließ und sogar versuchte, ihn aufzubauen. Aber er kannte auch nicht den wahnsinnigen Blick, den Smith ihm so oft zugeworfen hatte oder die grauenhafte Stimme, wenn er ihn wie den letzten Dreck verhöhnte. Ryan kannte auch nicht die Schmerzen, die er bisher erdulden musste, genauso wenig wie die Dinge, gegen die er sich nicht hatte wehren können. Doch solange Ryan bei ihm war, fühlte er sich beschützt und die Angst war nichts mehr weiter als ein kleines Zwicken.
„Komm her“, sagte Ryan leise und zog den Blonden abermals in eine Trost spendende Umarmung.
Nach ein paar Minuten ging es Aidan sichtlich besser und Ryan konnte ihm endlich die frohe Botschaft unter die Nase halten.
„Was ist das?“
„Ein Brief deiner Mutter. Sie hat ihn in einem Brief an mich versteckt, falls einer zu neugierig sein sollte. Los, lies’ ihn.“
Das ließ sich Aidan natürlich nicht zweimal sagen und riss den Brief ungeduldig auf. Gespannt las er und jetzt liefen ihm statt Angsttränen Freudentränen über die Wangen. Er drückte den Brief ganz fest an seine Brust. Dabei strahlte er übers ganze Gesicht und seine rauchgrauen Augen funkelten glücklich. Zum ersten Mal seit unendlich langen Wochen hatte er ein persönliches Lebenszeichen seiner Mutter erhalten. Sein plötzlicher Stimmungswechsel war furchtbar ansteckend und Ryan ließ sich
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