Straße der Diebe
meine Ruhe. Ich hatte Muße zu studieren, wie Cheikh Nouredine sagte. Das Paradies. Unterkunft, Wäsche und Bildung frei. Nach dem Abendgebet kam Bassam mich abholen, wir drehten wieder eine Runde und so weiter. Eine gesunde Routine.
Ich hatte nur eine Angst oder einen Wunsch, und das war, meiner Familie zu begegnen; sie wussten, wo ich war, ich wusste, wo sie waren; einmal sah ich meine Mutter auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite – ich kehrte ihr sofort den Rücken zu und verdrückte mich mit klopfendem Herzen. Ich schämte mich. Wie sie sich schämten, auch wenn ich damals noch nicht wusste, wie sehr und warum. Ich hätte gerne meine kleine Schwester gesehen, wahrscheinlich hatte sie sich verändert, war viel größer geworden. Ich versuchte, nicht daran zu denken. Ich versuche es noch immer. Ich frage mich, was sie heute über mich wissen. Es gibt immer Gerede, Gerüchte, die bis nach Hause dringen; bestimmt müssen sie sich die Ohren zuhalten.
Ich dachte oft an Meryem – ich hätte, meinte ich, den Mut aufbringen und mit einem Bus in ihr Dorf fahren sollen, um sie heimlich zu treffen. Ich schrieb ihr Briefe, aber diese Briefe endeten immer im Mülleimer, hauptsächlich aus Feigheit. Meryem gehörte schon ins Reich der Träume, geisterte schon als Erinnerung durch meinen Kopf.
Das Jahr ging schnell vorüber, und als in Tunis die Demonstrationen begannen, war ich bereits über ein Jahr hier. Diese Ereignisse trübten ein wenig meine Ruhe, das muss ich sagen. Cheikh Nouredine und die ganze Gruppe waren wie von Sinnen. Sie saßen die ganze Zeit vor dem Fernsehapparat. Sie beteten tagelang für die tunesischen Brüder. Danach organisierten sie Spendensammlungen für die ägyptischen Brüder. Dann wurde die Liste um die libyschen und die jemenitischen Brüder erweitert, sie begannen Aktionen »für unsere unterdrückten arabischen Brüder« zu organisieren.
Als der Protest am 20. Februar in Marokko begann, hielt sie nichts mehr zurück. Sie wechselten sich ab auf Sit-ins und Demonstrationen. Meine Buchhandlung wurde zum Hauptquartier der Kampagne: Die Gruppe sah in den arabischen Aufständen die seit Langem erwartete grüne Flut. Endlich echte muslimische Staaten vom Golf bis zum Atlantik, davon träumten sie nachts. Wie mir Cheikh Nouredine erklärte, steckte dahinter die Idee, so viel wie möglich freie und demokratische Wahlen durchzusetzen, um die Macht zu ergreifen und dann von innen heraus, durch die vereinte Kraft der Gesetzgebung und des Volks auf der Straße, die Verfassungen und die Gesetze zu islamisieren. Ihre politischen Pläne waren mir ziemlich gleichgültig, aber die fortwährende und stürmische Militanz brachte meine tägliche Routine völlig durcheinander. Sie ließen mich nicht mehr so häufig ins Internet (ständig brauchten sie es) und ließen mich auch nicht mehr in Ruhe lesen. Immer gab es irgendeine Veranstaltung, eine Demonstration, an der man teilnehmen, eine Fernsehsendung, die man sehen musste. Plötzlich verbrachte ich immer mehr Zeit im Stadtzentrum. Um einen Krimi zu lesen, saß ich den ganzen Nachmittag bei einem Tee an der Place de France. Cheikh Nouredine war ein wenig sauer, weil ich mich rarmachte, er sagte, du könntest dich ruhig aktiver an unserem Kampf beteiligen, und sah mich scharf an.
Sie bekamen Prügel. Die Polizei hatte den Befehl erhalten, die Enden der Demonstrationszüge ohne Tränengas, ohne Gummigeschosse, auf die altmodische Art zu zerstreuen, durch Zugriff und mit dem Knüppel, und das gelang ihr ziemlich gut: Über den Bärten blühten die Veilchen. Und da die Jugend die Avantgarde der Bewegung sein sollte, war Bassam der Erste, der eines Tages am späten Abend bei der Place des Nations Prügel einstecken musste und als Held zurückkehrte, mit blutunterlaufenen Striemen auf der Brust, einem Verband auf der Nase, Veilchen um die Augen und immer noch »Für Gott, Vaterland und Freiheit« skandierend. Ägypten war das Vorbild. Sie redeten nur noch von Kairo und dem Tahrir-Platz, dem Platz der Befreiung. Ägypten ist eine fortschrittliche Gesellschaft, sagte Cheikh Nouredine, die Brüder werden den Sieg davontragen. Vor Rührung weinte er fast. Ich erinnere mich, als wir im Fernsehen einen französischen Kenner der arabischen Welt sagen hörten, es seien keine Muslimbrüder auf dem Tahrir-Platz, war Cheikh Nouredine zuerst stocksauer. Lügen, sagte er. Möge Gott die Ungläubigen zerschmettern. Was für Schweinehunde diese Franzosen sind, sie
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